Irgendwie zu groß

VOR-SICHT: „Tatort: Nichts als die Wahrheit“, zweiteiliger Fernsehkrimi, Regie: Robert Thalheim, Buch: Katja Wenzel, Stefan Kolditz, Kamera: Michael Saxer, Produktion: MadeFor Film (ARD/RBB, 9.4.23 und 10.4.23, jeweils 20.15-21.45 Uhr)

epd Guckt eigentlich noch jemand „Tatort“? Dumme Frage. Viele Millionen Menschen gestalten mit der Krimireihe nach wie vor ihren Sonntagabend, doch der Hype ist längst vorbei. Die personelle Veränderung beim Berliner Ermittlerduo könnte ein Grund sein, Ostersonntag rückfällig zu werden. An der Seite von Robert Karow (Mark Waschke) ermittelt nun Susanne Bonard (Corinna Harfouch). Der RBB führt seine neue Kriminalistin, die nach 15 Folgen an die Stelle von Meret Becker als Nina Rubin tritt, mit einem zweiteiligen Fall ein. Um es gleich vorwegzunehmen, es reicht, wenn man den ersten Teil guckt.

Ein wiederkehrendes Motiv dieses Krimis ist, dass etwas sehr groß sei, viel größer als gedacht, ja einfach riesengroß und irgendwie auch zu groß. Das „Etwas“ ist ein rechtes Netzwerk in der Berliner Polizei, das sich schließlich als Teil einer weltumspannenden Verschwörung erweist. Das Thema „Rechte in der deutschen Polizei“ ist für sich genommen wichtig, furchtbar und interessant genug. Es hätte der Steigerung in eine globale Dimension nicht bedurft. Das Ganze ist dadurch wirklich „irgendwie zu groß“ geraten, wie sich vor allem in Teil zwei herausstellt. Im spannenden ersten Teil stört das aber noch gar nicht.

Die Schauspielerin Corinna Harfouch befindet sich im Verrentungsalter. Erst jüngst wurde in einer Kampagne wieder beklagt, dass ältere Schauspielerinnen keine Rollen mehr kriegen (epd 7/23). Jedenfalls diejenigen nicht, die so alt aussehen, wie sie sind. Eine Iris Berben bekommt Rollen, unter anderem, weil sie allem Anschein nach sehr viel dafür tut, nicht mal annähernd so alt auszusehen, wie sie ist. Corinna Harfouch geht ohne jede ersichtliche Mühe als zehn Jahre jünger durch. Laut dpa klagt sie allerdings über Schmerzen in der Hüfte, weshalb sie im neuen „Tatort“ keine Szenen mehr spielen wolle, in denen sie rennen muss. Wie dem im Einzelfall auch sei, aus unerfindlichen Gründen ist und bleibt der deutsche Fernsehkrimi „Der Alte“: Eine Art Refugium für Jahrgänge von Schauspielern und Schauspielerinnen, die die echte Polizei nicht mehr auf die Straße schicken würde.

Hauptkommissarin Susanne Bonard hat viele Jahre lang an der Polizeiakademie unterrichtet und ist eine Art Promi bei der Polizei. Ob ihrer hehren rechtsstaatlichen Prinzipien lautet ihr Spitzname „die heilige Susanne“. Für diesen Fall kehrt sie zurück zum LKA. Sie hat Schuldgefühle, weil sie eine verzweifelte Ex-Schülerin nicht ernst genommen hatte, als diese sie mitten in der Nacht anrief, weil da irgendetwas Schlimmes viel größer sei als erwartet. Kurz nach dem Hilferuf fand man die Beamtin erschossen auf. Selbstmord oder Mord?

Was für ein Glück, wenn die Freundin Polizeipräsidentin ist. Auf diese Weise wird es der heiligen Susanne mal eben möglich, zum LKA zurückzukehren. So läuft das bei der „Tatort“-Polizei. Reihen wie diese haben inzwischen wirklich ihre ganz eigene Version einer Polizeirealität geschaffen.

Harfouchs Rolle erinnert an Senta Bergers Prohacek in „Unter Verdacht“ (2002-2019): Eine ältere Polizistin, der viel an der Demokratie und Recht und Ordnung liegt - mitten in einem Polizeisystem, das diesbezüglich viel zu wünschen übrig lässt. Harfouch verkörpert diese Art „starke Frau“ vollkommen überzeugend. Etwas merkwürdig wirkt allerdings ihr Verhältnis zum Ehemann Kaya Kaymaz (Ercan Karaçayli), einem Richter und Mansplainer, den die ansonsten so taffe Polizistin auf eine Art um Rat und Hilfe fragt, als sinke ihr IQ automatisch um 30 Prozent, wenn sie durch die Haustür kommt.

Überhaupt scheinen sich die Drehbuchautoren Katja Wenzel und Stefan Kolditz unter Richtern etwas grundsätzlich Dolles und Mächtiges vorzustellen. Der Frage, wer Präsident beziehungsweise Präsidentin des Bundesverfassungsgerichts wird, wird in diesem Film eine Bedeutung beigemessen, die dieses Amt nicht hat. So belehrt uns Wikipedia, dass Verfassungsrichter hierzulande nach zwölf Jahren aufhören müssen. Wiederwahl ausgeschlossen. Es läuft hier also anders als in den USA, wo Richter am Supreme Court auf Lebenszeit berufen werden, so dass sich dort beispielsweise rechte Politik durch die Besetzung möglichst vieler Stellen mit möglichst jungen Richtern tatsächlich großen Einfluss auf Dauer verschaffen kann.

Auch wenn sich im neuen Gefüge so manches noch ruckeln muss, würde man beim nächsten Fall aber auch als inzwischen längst „Tatort“-Abstinente glatt noch mal einschalten.

Aus epd medien Nr. 14/15 vom 7. April 2023

Andrea Kaiser