VOR-SICHT: „37 Sekunden“, sechsteilige Fernsehserie, Regie: Bettina Oberli, Buch: Julia Penner, David Sandreuter, Produktion: Odeon Fiction (ARD/Degeto, 15.8.23, 22.50-1.05 Uhr und 22.8.23, 23.05-1.20 Uhr, ab 4.8. in der Mediathek)
epd Und die Moral von der Geschicht: Verlieb dich in die beste Freundin deiner Tochter nicht. Dass es sich für den alternden Musiker Carsten Andersen (Jens Albinus) sehr empfohlen hätte, diese Liebschaft auszulassen, ist schon nach der ersten Folge dieser Serie klar. Warum die Degeto dennoch sechs Folgen à 45 Minuten hat drehen lassen, um eine an sich eher übersichtliche Geschichte zu erzählen, bleibt umso unklarer. 90 bis 180 Minuten hätten auch gereicht, um zu dokumentieren, dass Themen wie Nein heißt Nein, Meetoo und Cancel Culture auch an der ARD und ihrer Tochterfirma Degeto nicht spurlos vorübergegangen sind.
Fast schon zu alt für eine Midlife-Crisis, hat sich der 55-jährige Carsten Andersen in die Nachwuchsmusikerin Leo (Paula Kober) verliebt. Schwer dürfte es nicht gewesen sein, sie „rumzukriegen“, Carsten, der populäre Deutsch-Pop-Sänger und Vater von Leos bester Freundin Clara (Emily Cox) ist ihr Idol. Da Carsten mit seiner Frau Maren (Marie-Lou Sellem) an sich ein prima Leben führt, beendet er die Affäre aus Gründen der Vernunft, obwohl er eigentlich große Lust hätte, sich mit seiner jugendfrischen Muse noch ein Weilchen länger zu vergnügen. Betrunken kommt es daher bei seiner Geburtstagsparty, auf der Leo uneingeladen auftaucht, ein letztes Mal zum Sex, obwohl die 32-Jährige deutlich gesagt hatte, dass sie das nicht will.
Leo reagiert verstört, erst nach und nach dämmert ihr, was ihr da widerfahren ist. Sie fühlt sich beschmutzt und leidet unter Flashbacks. Während Leo traumatisiert ist, ist aus Perspektive von Carsten nichts Schlimmes passiert, eine Vergewaltigung schon gar nicht. Schließlich war man betrunken und bekifft und irgendwie wollte sie ja doch. Die Sache entwickelt eine Eigendynamik, so dass es schließlich zu einem Prozess kommt und durch das öffentliche Aufsehen zum beruflichen Schiffbruch von Carsten Andersen - und zu einem Ende, das hier nicht gespoilert werden soll.
Nur so viel: Für alle, die schon viele deutsche Fernsehfilme gesehen haben, war dies Ende leider so erwartbar, dass man laut hätte aufschreien mögen, als es tatsächlich so kommt, wie es zwar jeder Wahrscheinlichkeit spottet. Nur die merkwürdige Logik des deutschen Fernsehfilms erzwingt es geradezu. Die real existierende Einsichtsfähigkeit von Männern wie Carsten dürfte nur selten so ausgeprägt sein wie bei dieser fiktiven Figur. Ganz am Ende gibt es sogar noch ein bisschen Heiteitei und Trallala - da könnte man regelrecht ärgerlich werden.
Früher galten solch „positive“ Abschlüsse „ernster“ Filme als geboten, um die Zuschauer nicht allzu verstört ins Bett zu schicken. Wer fürs Streaming produziert, könnte - und sollte - sich solchen Unfug sparen. Denn dass sich irgendwer werktags bis in die frühen Morgenstunden vor den Fernseher setzt, um sich zweimal 135 Minuten einer Degeto-Fernsehserie reinzuziehen, in der es darum geht, dass alte weiße Männer heute nicht mehr mit allem durchkommen, womit sie früher durchgekommen sind, erwartet beim Sender wohl niemand im Ernst. Konsequenterweise läuft die Serie daher auch erst in der Mediathek, bevor er zu nachtschlafender Zeit auch noch versendet wird.
Was an dieser Serie wirklich sehr gut gelungen ist, erfährt nur, wer viel Geduld hat und lange genug dranbleibt. Die Vergewaltigung erscheint nämlich nicht etwa als ein isoliertes Verbrechen oder gar als Ausrutscher. Der Singer-Songwriter-Star-Musiker Carsten ist ein Narziss mit netter Sensibelchen-Fassade, der seine Mitmenschen und Familie damit nur umso geschickter in seinen Dienst genommen hat. Allen voran seine Tochter Clara, die er nach dem Tod ihrer Mutter allein erzogen und auf sich „geprägt“ hat. Juristin Clara zieht für den Vater dann auch prompt in den Krieg gegen die Freundin. Und das, obwohl sie ahnt, dass stimmt, was Leo sagt und sie die schwarzen Seiten des geliebten Vaters kennt - sie trägt sie schließlich selbst in sich.
Der jüngere Sohn Jonas (Valentin Mirow) wiederum versucht den Ausbruch aus dem von ihm durchschauten System, er gelingt ihm nicht. Und der oft düpierten Ehefrau schon gar nicht. Sie ist Carstens größte Stütze, fällt der Glanz seines Ruhms doch auch auf sie.
Das kann man gucken, man muss es aber nicht gesehen haben. Jens Albinus ist als blasser, schmaler Einer-wie-ich-ist-doch-kein-Vergewaltiger-Typ gut besetzt. Paula Kober tut ihr Bestes, die inneren Ambivalenzen ihrer Figur äußerlich sichtbar zu machen, doch weder Story noch Figuren ziehen einen hier derart in den Bann, dass man unbedingt wissen möchte, wie es Folge für Folge weitergeht. Erstaunlich ist allerdings das Tempo, in dem sich gesellschaftlicher Wandel vollzieht. Was gestern in der Welt eines Carsten noch völlig selbstverständlich war, geht heute in der Welt einer Leo gar nicht mehr. Dabei war doch die Degeto noch vor wenigen Jahren dafür bekannt, dass sie mit unzähligen Schmonzetten schamlos Reklame für längst überholte Geschlechterklischees machte. Inzwischen sieht man auch dort die Welt offensichtlich mehr wie die Leos als wie die Carstens dieser Welt.
Aus epd medien 31-32/23 vom 4. August 2023