Die Liebe als Rätsel

VOR-SICHT: „Gesicht der Erinnerung“, Drama, Regie: Dominik Graf, Buch: Norbert Baumgarten, Kamera: Hendrik A. Kley, Produktion: Lailaps Films (ARD/SWR/ORF, 8.2.23, 20.15-21.45 Uhr)

epd Die erste Einstellung, eine Felsenschlucht irgendwo in Italien, ist schon ein Fingerzeig, aber das weiß das Publikum noch nicht. Es geht in diesem Film um Abgründe, aber auch um die Liebe zwischen einem charmanten Musiker und einer erfolgreichen Physiotherapeutin, die wir kennenlernen und mögen und die uns, von außen gesehen, ganz normal erscheinen könnten. Der Film aber führt uns nach innen. Und auf dieser Reise müssen wir bereit sein, unsere Vorstellungen von Normalität über Bord zu werfen. Nicht nur die Mittdreißigerin Christina (Verena Altenberger) und der 20-jährige Patrick (Alessandro Schuster) sind sehr besondere, für sich selbst und die Welt schwer zu ergründende Personen oder Phänomene, noch ein Drittes ist es: die Liebe.

Im ersten Viertel des Films geht es vor allem um Christina, die in einer Wohngemeinschaft lebt und ihre eigene Praxis betreibt. Die Frau ist schön, und sie kann gut massieren und beraten, aber irgendwas stimmt nicht mit ihr. Sie hat „Aussetzer“ und ist in Therapie, sie nimmt Medikamente. Die Schieflage, in die ihre Psyche offenbar hineingerutscht ist, wird nicht mit Worten beschrieben, sondern in Flashbacks und bizarren Schnitten heraufbeschworen, sie wird bildlich suggeriert. Eine Spannung entsteht: Was ist los mit der Frau? Erst später wird klar, woher ihr Trauma stammt: aus der Liebe. Mit 16 Jahren verlor sie ihren ersten Gefährten, einen 20 Jahre älteren Mann namens Jakob, der eine Familie hatte und sein Leben bei einem Autounfall verlor. Er war gerade unterwegs zu ihr. Sie kann ihn nicht vergessen und fühlt sich schuldig an seinem Tod.

Erst Patrick erweckt ihre Lebens- und Liebesgeister erneut. Er nimmt sich ihrer nach einem Zusammenbruch an und fährt sie heim; sie zögert erst, dann lässt sie zu, dass er ihr nahekommt. Der Klavierspieler und Sänger ist 16 Jahre jünger als sie, dafür aber ähnelt er Jakob, was Christina ihm nach und nach eröffnet. Zuerst zuckt er zurück. „Ich bin nicht Jakob.“ Aber dann probiert er doch den Anzug des Toten, wie Christina es sich wünscht. Nicht ganz ohne inneren Widerstand nimmt Patrick den Platz des Verstorbenen ein. Aber er hält die prekäre Rolle nicht durch. „Sie ist verrückt“, sagt er zu einem Freund, der ihn nach seinem Liebesleben fragt.

Es kommt raus, dass Patrick am Tag von Jakobs Tod im selben Sprengel bei Salzburg, in dem der Unfall stattfand, geboren wurde - in einer begüterten Familie mit schlossähnlicher Residenz. Die Kinderfrau, immer noch als Haushälterin in der Familie tätig, erzählt ihm, wie er so war als kleiner Junge: ein Einzelgänger, verschlossen, versonnen, und er hat sich einen eigenen Namen gegeben: Jakob. Als der junge Mann das vernimmt, kehrt er zu Christina zurück. Es scheint, als sei er also wirklich der wiedergeborene Jakob und die hinterbliebene Christina sein Schicksal, wie er ihres.

Dominik Graf erzählt diese amouröse Spukgeschichte auch über die visuelle Faszination der Schauplätze: der Baum, gegen den Jakobs Auto einst geprallt ist, die improvisierte Bühne, auf der Patrick mit seiner Band auftritt, eine Turmruine in der Landschaft. Und er erzählt Christinas Liebesakte mit Patrick und, in der Rückblende, mit Jakob, mit den beiden Männern, die immer mehr zu einer einzigen Person werden.

Das Buch von Norbert Baumgarten bietet knappe, klare, ausdrucksstarke Dialogpassagen, die weniger das alltägliche Gerede von Menschen unserer Zeit kopieren, sondern wie subtile Kommentare oder Betrachtungen zum Geschehen wirken. Dieses Geschehen wird über Bilder und eine um Übergänge manchmal unbekümmerte Montage transportiert, es wird viel mit Tricks und Effekten gearbeitet, wie Überblendungen, einem verschwimmenden Hintergrund, verzerrten Veduten, verhüllten Gesichtern, angeschrägten Perspektiven. So entsteht ein Einblick in die verstörte Psyche der Hauptfigur - es steckt aber mehr dahinter.

Christina ist nicht einfach nur „verrückt“, auch Patrick wird es nach und nach - und schließlich: Sind wir es nicht alle? Und vor allem: Ist die Liebe nicht immer etwas Verrücktes? Und ist das Objekt des Begehrens nicht immer dieselbe Persona? Als Patrick zu Christina zurückkehrt, ist sie, von einem Gehirntumor gezeichnet, Patientin in einem Reha-Institut irgendwo in Italien, einer bergigen Landschaft mit tiefen Klüften. Sie springt hinein.

Die schönste Leistung dieses Films sind die Gesichterstudien. Sie schöpfen mit ihren Großaufnahmen die Möglichkeiten des Mediums Fernsehen voll aus und zeigen natürlich auch die Schauspielkunst der Hauptfiguren.

Verena Altenberger besitzt in ihrer Erscheinung, figürlich und mimisch, etwas Kraftvolles, Zupackendes, Frohes. Diese Attribute werden hier gebrochen, sie hat ihre Jugend, ihre Freiheit, ihre große Liebe verloren, jetzt tritt Verletzlichkeit zutage, das darf und kann sie spielen, und sie überzeugt, wenn sie ihre Sehnsucht nach der Wiederholung frühen Glücks in ihren großen Augen leuchten lässt. Ähnlich bezaubernd ist Alessandro Schuster als Patrick, wenn sein Gesicht, die stets skeptisch blickenden Augen und der kindliche Mund sein Erstaunen und seine Furcht vor der Liebe spiegeln.

Ein besonderes Verdienst des Films ist es, dass er sich bei der Entfaltung seiner Geschichte von psychologischen Erklärungen fernhält und stattdessen die im deutschen Fernsehen so rare filmische Poesie erzeugt, welche eine Vielfalt an Interpretationen möglich macht. Diese eröffnet dem Publikum die Option, sich ob der offenen Frage nach der Möglichkeit von Seelenwanderung mit dem ästhetischen Genuss der Bilder und Gesichter sowie eines leichten Grusels zufriedenzugeben. Muss man immer alles verstehen? Kommt auf das Genre an. In einem lyrischen Liebesfilm darf mit der Rätselhaftigkeit gespielt werden.

Aus epd medien 5/23 vom 3. Februar 2023

Barbara Sichtermann