Außer Kontrolle

VOR-SICHT: „Wer wir sind“, sechsteilige Miniserie, Regie: Charlotte Rolfes, Buch: Marianne Wendt, Christian Schiller, Magdalena Grazewicz, Kamera: Fabian Rösler, Produktion: Viafilm (ARD/MDR/NDR/Degeto, 15.11.23, 20.15 -22.30 Uhr und 17.11.23, 22.20-0.35 Uhr, ab 10.11.23 in der ARD-Mediathek)

epd Geht es um Generationenkonflikte, dann drängt ein Thema zurzeit alle anderen in den Hintergrund. Derzeit hat die Frontstellung „Gen Z vs. Boomer“ Konjunktur, in Fernsehen und Streaming, nicht nur in der Sparte Information, sondern inzwischen vielfach auch in der Fiktion. Hier treten besonders in Serienformaten inzwischen gehäuft jugendliche Aktivisten auf, die den Konflikt mit Eltern und Establishment auf ein nächstes Level tragen. In Serien wie „Tod den Lebenden“ oder „Aufgestaut“ machen die Protagonistinnen und Protagonisten Ernst mit dem Vorsatz, diejenigen zur Verantwortung zu ziehen, die ihren Wohlstand auf Kosten der Umwelt und der Zukunft erreicht haben. Mit rücksichtsloser Ausbeutung, so sehen sie es. Für den „Marsch durch die Institutionen“ sind sie nicht mehr bereit. Dauert viel zu lang.

Die sechsteilige Serie „Wer wir sind“ stellt die relevanten Fragen zur Radikalisierung jugendlicher Aktivisten. Besonders die Rollen der Jugendlichen sind ausgezeichnet besetzt, der Serie gelingt aber noch mehr, als Charakter- und Beziehungsporträts der Hauptfiguren in ihrem politischen und zeitaktuellen Wirkungsfeld zu zeichnen.

Meistens stammen nämlich die Figuren solcher jugendlicher Aktivisten aus dem sogenannten gutbürgerlichen beziehungsweise bildungsbürgerlichen Milieu. Die Autoren definieren sie als links. Oder linksradikal. Konservativ sind sie selten. Rechts sind eher die Hooligans aus prekären Verhältnissen, wenn sie denn in den Blick genommen werden. Hartz IV und Bürgergeld machen aus Menschen gewaltbereite Dumpfbacken. „Gen Z vs. Nazis“ ist derzeit die gängige Darstellungsformel. Wohlsituierte Abiturienten gegen saufende Schulabbrecher. Denkende gegen Systemsprenger. Es ist bemerkenswert, dass „Wer wir sind“ solche Gemeinplätze verlässt. Jugendgewalt wird hier nicht eingeteilt in Gewalttaten, die mit Bauchschmerzen gerechtfertigt werden oder zumindest nachvollziehbar sind, und andere, die „blind und dumpf“ und daher zu verurteilen sind. Obwohl es viel Wut gibt bei den jungen Leuten hier in Halle an der Saale. Doch es gibt Gründe dafür, ganz unterschiedliche Gründe. Unterscheiden heißt nicht bewerten, aber es ist Voraussetzung und Basis dafür.

Das Drehbuch von Marianne Wendt, Christian Schiller und Magdalena Grazewicz findet für diese Unterscheidungen differenzierte Darstellungsformen. Charlotte Rolfes (Regie) und Fabian Rösler (Kamera) gestalten besonders die Gewalt-Urszene in der ersten Folge, aus der heraus die Konflikte entwickelt werden, sehr überzeugend. Nicht alle Aktionen der Erwachsenen erfahren die gleiche Aufmerksamkeit.

Es beginnt an einem Abend an einem zentralen Platz. Im Aktivistencamp von „Red Flag Halle“, aufgebaut vor der Zentrale des lokalen Entsorgungsunternehmers Daniel Noll (Jörg Schüttauf), dem die Gruppe „Greenwashing“ und illegale Müllbeseitigung vorwirft, stehen die Zeichen zunächst eher auf Happening als auf Krawall. Vanessa Petzoldt (Mina-Giselle Rüffer) hat Luise Kogan (Lea Drinda) mitgebracht, die anderen, Felix Sylla (Chieloka Jairus), Pattie Tran (Han Nguyen) und Niklas Fischer (Joshua Hupfauer) sind skeptisch. Heimlich planen sie illegale Aktionen auf Nolls Entsorgungsanlage.

Luise ist ein Chemiecrack, steht kurz vor dem Abi und hat das Stipendium einer amerikanischen Uni bereits in der Tasche. Sich nichts zuschulden kommen zu lassen, ist für ihren Zukunftstraum als Forscherin unabdingbar, schärft ihr die Mutter ein. Vorbestrafte lassen die USA nicht einreisen. Als Polizistin mit Verbindungen zur Jugendhilfe ist Catrin Kogan (Franziska Weisz) im Bild, was die Lage junger Straftäter in Halle angeht. Alexandr (Shenja Lacher), Luises Vater, arbeitet im Wohnheim der Jugendhilfe und betreut Intensivtäter wie Vanessas Bruder Dennis (Florian Geißelmann). Vielfach vorbestraft, ist Dennis bei der allerletzten Chance angelangt. Wenn es nach anderen Betreuern ginge, wäre er längst für lange Zeit weggesperrt. Alexandr glaubt daran, dass Dennis die Kurve kriegen kann. Wie es Vanessa gelungen ist.

An diesem Abend eskaliert die Gewalt von allen Seiten. Wohin die Reise für Luise geht, wird eingangs gezeigt, als Catrin sie in einer Zelle aufsucht und sie nach der Herkunft einer Waffe fragt. Antwort darauf gibt es freilich erst in der fünften Folge. Vorerst greifen rechte Hooligans die noch friedlichen Aktivisten an, es wird handgreiflich, die hinzukommenden Polizisten, darunter Catrins Kollege Marco Tietze (Robin Sondermann), werden provoziert und reagieren unangemessen brutal. Die Situation gerät außer Kontrolle.

Am Ende liegt Vanessa schwer verletzt im Krankenhaus, ein Laden wurde geplündert, Marco hat Felix am Boden in einer Weise fixiert, die an die Bilder vom Tod George Floyds erinnern. Felix ist schwarz, sein Vater Staatssekretär. Bald geht es auch um Rassismus in der Polizei. Und es geht um die Bedrohung jüdischen Lebens in Deutschland, als Alexandr zu seinem Vater zurückzieht, in die Hochhaussiedlung. Dort freundet sich Luise mit einem jungen Mann an, geflüchtet aus Odessa, der Musik studieren will.

Die Eltern von Luise trennen sich. Catrin hatte eine Affäre mit Marco, die Erwachsenen sind beschäftigt mit Liebeshändeln, Karrieren und damit, ihre mühsam aufgebaute Existenz nicht zu gefährden, wie Patties vietnamesische Eltern mit ihrem Blumengeschäft. Sie möchten, dass Pattie Medizin studiert. Niklas' Mutter reist als Entwicklungshelferin um die Welt, Felix' Vater entwirft Strategien, um seine politische Stellung zu verbessern.

Diese Hintergründe sind die gleichen wie üblich, aber die jugendlichen Darsteller, vor allem Lea Drinda, spielen ihre Parts ausgezeichnet. Verliebtheitsgefühle, Aktionismus und Gewaltdiskussionen unter den Jugendlichen zeichnet „Wer wir sind“ sehr nachvollziehbar. In einem zweiten parallel erzählten Handlungsstrang steht Dennis, der junge Intensivtäter, im Mittelpunkt. Dennis gehört zu den Plünderern, er ist wütend auf Vanessa, die daheim ausgezogen ist und den Absprung geschafft hat. Er ist wütend auf seine passive Mutter (Natalia Rudziewicz), die ihren Nazi-Lover umschmeichelt, während Dennis' kleiner Bruder Linus auf dem Balkon friert.

Mit Dennis' kurzer Lunte kommt nur Alex zurecht, aber das Jugendhilfekonzept in Halle steht auf der Kippe, politisch steht es unter Druck, die Medien befeuern das. Eine Polizei, die mit der Jugendhilfe zusammen präventiv arbeitet, das gefällt nicht jedem. Die Eskalation, die veritable Straßenschlacht unter Beteiligung der Beamten zu Beginn der Serie, ist für viele gefundenes Fressen.

Nicht immer hat die Serie den gleichen wachen Blick auf ihr Personal. Die Herkunft der Wut der jungen Leute und die Eskalation der Gewalt werden vielschichtig beschrieben und gezeigt. Florian Geißelmann spielt den chancenlosen, kämpfenden Underdog Dennis brillant. Die Erwachsenenrollen halten mit dieser Ausgestaltung nicht mit. Insbesondere Firmenchef Noll, von Schüttauf anschaulich gönnerhaft verkörpert, kommt als Akteur zu glatt durch. Auch Catrins Gewissensbisse und die Liebelei mit dem Kollegen Marco, von dessen latent rassistischer Einstellung sie anscheinend nichts gewusst hat, wirken konstruiert.

„Wer wir sind“ ist trotz solch kleiner Einschränkungen eine gelungene Produktion. Spannender und glaubwürdiger als die meisten Filme und Serien, in denen junge Menschen zurzeit als Sympathisanten der „Letzten Generation“ auftreten.

Aus epd medien 45/23 vom 10. November 2023

Heike Hupertz