Angriff auf die Selbstbestimmung

VOR-SICHT:„Nichts, was uns passiert“, Fernsehfilm, Regie: Julia C. Kaiser, Buch: Julia C. Kaiser nach dem Roman von Bettina Wilpert, Kamera: Lotta Kilian, Produktion: Gaumont (ARD/WDR, 1.3.23, 20.15-21.45 Uhr, ab 23.3. in der ARD-Mediathek)

epd Kein Opfer sein. Unter allen Umständen kein weiterer MeToo-Fall werden, so sagt es Anna (Emma Drogunova) im Fernsehfilm „Nichts, was uns passiert“. Anna, die sich in woken Studierendenkreisen bewegt, in denen Genderdiskussionen, friedfertige Sprache und kollektiv-bewusstes Handeln ganz oben auf der Tagesordnung stehen. Dass sie vergewaltigt wurde, realisiert sie erst nach und nach, es dauert Wochen. Schlechter Sex, ja. Aber hatte sie nicht vorher schon mal mit Jonas (Gustav Schmidt) geschlafen, einfach um mal wieder Sex zu haben? Schon dieser One-Night-Stand war soso. Das fand auch Jonas, unerfahrener als Anna. Er hatte mit ihr die Stellungen probiert, die bei seiner Ex erfolgreich waren. Sagt er. Sie sagt, sie habe bloß unten liegen können, und fand es vergessenswert. Trotzdem trafen sie sich wieder. Gleiche Studentenkreise. Beim Public Viewing, obwohl beide keinen Fußball mögen, und bei der Feier des 30. Geburtstags von Annas bestem Freund Hannes (Lamin Leroy Gibba), der auch Jonas' Freund ist. Und der später in Gewissensnot gerät.

Seit einiger Zeit gibt es eine neue Art von Filmen zum Themenkomplex Vergewaltigung. Filme, die die Selbstermächtigung von Frauen nach einer solchen Tat ins Zentrum stellen. Filme, die sich weder als Krimi noch als Aufdeckungs- oder Aufklärungsstücke verstehen, oder höchstens sehr vermittelt. In denen es mehr um die Wirkungen geht als um die Tat selbst. In denen auch die Tat anders verstanden wird, weniger als strafbarer Übergriff, die solche Taten natürlich bleiben, sondern als Angriff auf die Selbstbestimmung der Person mit massiven Auswirkungen auf ihr Sicherheitsgefühl und ihr künftiges Vertrauen in die Welt. Sexualisierte Gewalt als Machtdemonstration an Frauen, die gegen die Opferrolle kämpfen müssen, um eins mit sich zu bleiben.

Dramaturgisch konventioneller und für ein eher klassisches Fernsehpublikum erzählt war neulich der ZDF-Film „So laut du kannst“ (Kritik in epd 47/22), eindrucksvoll gespielt von Nina Gummich und Friederike Becht. Hier waren die Rollen der nach außen Kämpfenden und der um Selbstbewusstsein Ringenden auf zwei Frauen verteilt, die eine konfrontierte den Täter, die andere verkroch sich. Es ging aber ebenfalls um aktiven Widerstand gegen das Gebrochenwerden durch körperliche und sexualisierte Demütigung.

Der Kinofilm „Alles ist gut“ (2018) von Eva Trobisch mit Aenne Schwarz in der Hauptrolle stellte ebenso wie „Nichts, was uns passiert“ und „So laut du kannst“ das „Integrieren“ des gewalttätigen Geschehens ins reflektierte Selbstbild in den Mittelpunkt. Die junge Frau, die in „Alles ist gut“ vergewaltigt wird, sieht den Täter danach immer wieder. Es ist der Chef ihres Freundes. Sie tut erst einmal, als ob nichts war.

Allen Filmen gemeinsam ist, dass Schweigen längerfristig keine Option ist. Polizei ist allerdings auch nicht hilfreich, jedenfalls nicht, um aus der Ohnmachtserfahrung herauszukommen. In „Nichts, was uns passiert“ geht es nicht einmal darum, die Polizei wegen des unsensiblen Umgangs mit den Angegriffenen zu kritisieren. Das Strafrecht definiert Täter, Opfer, Tathergänge, plausibilisiert Aussagen. Nichts, was Anna hilft.

Zu den eigentümlichsten Szenen des eigenwillig offenen von Julia C. Kaiser inszenierten Films gehört Annas Anzeige bei der Polizei. Die junge Frau, gerade mit ihrem Sprachenstudium fertig, im Sommer der Tat in Partylaune, sexuell offen und gelegentlich sehr betrunken, sitzt wie eine Kombattantin der Polizistin gegenüber, die sich nur ungern beim Verzehr zuckriger Backwaren stören lässt, schließlich aber die Anzeige aufnimmt und ihr Fragenprogramm abspult. Warum sie erst zwei Monate später komme? Betrunken damals, ach? Sie gibt ihr den „guten Rat“, weniger zu trinken. „Sie sehen ja, was sonst passieren kann.“

Da erst, zwei Monate später, nach dem Gespräch mit Schwester Daria (Katja Hutko), benennt Anna den Vorgang eindeutig öffentlich. Vorher, auch das gezeigt in einer eindrücklichen Szene, fehlen ihr die Worte. Worte definieren, benennen, stellen fest. Wörter machen Taten begreifbar. Anna, die in der Unibibliothek das Internet benutzt, googelt „Vergewaltigung“ nach der Tat. Zuvor, in den Unidebatten über Sprachgebrauch, war die Praxis der Kommunikation eine Sache der eigenen und gemeinsamen Entscheidung für oder gegen bestimmte Wörter und Rede. Nun sieht sie sich dem Begriff „Vergewaltigung“ ausgesetzt. Es ist „nichts, was uns passiert“. Im Benennenmüssen steckt der Beginn der Integration in die eigene Frauenbiografie.

Wie überlegt der Film mit seinem Sujet und seinen Darstellenden umgeht, zeigt sich nicht nur hier. Kaiser führt eine Podcasterin ein (Shari Asha Crosson), mit der nicht nur Anna, sondern Jonas, Hannes, Annas Mitbewohnerin und sogar Jonas' Eltern über die jeweilige perspektivische Glaubwürdigkeit des Geschehens reden. Die Tat selbst wird nicht gezeigt, auch das eine kluge Entscheidung, die die Grundlage für die echte Multiperspektivität der Ansichten dieses auszeichnungswürdigen Films ist. Da es keine „echte“ Auflösung gibt (wer hat recht?), die in der fiktionalen Darstellung immer eine Objektivitätsbehauptung ist, weitet sich der szenische Erzählraum für Ansichten der Tat. Es gibt einen objektiven Kern, aber die Subjektivität entscheidet.

Aus Jonas' Sicht ist Anna flirty, fordert ihn heraus, provoziert ihn. Annas Mitbewohnerin hält sie für eine Lügnerin, ständig seien außerdem Männer in der WG ein und aus gegangen. Hannes ist im Zwiespalt, lernt das Wort „Victim Blaming“. Jonas' Eltern sind bildungsbürgerliche Witzfiguren. Der Gossip an der Uni skandalisiert die Vorgänge, am Ende ist Jonas isoliert und weint, vermutlich aus Selbstmitleid.

Das Wetter ist sommerlich unbeschwert, trügerisch. Misstraue dem filmisch Gesetzten, auch das könnte die leitende Idee der Inszenierung sein: Du darfst nicht alles glauben. Du musst Dich entscheiden. Du musst Dich verhalten. In „Nichts, was uns passiert“ hat die Podcasterin die undankbarste Rolle. Sie soll reines Medium sein (im Buch stehen die Selbstaussagen für sich), ein Filter oder Ordnungsprinzip. Sie allein darf sich nicht entscheiden. Shari Asha Crosson schafft es trotzdem, Präsenz und Zugewandtheit zu vermitteln.

Die eigentliche Bühne freilich gehört der mitreißenden Darstellung von Emma Drogunova, der es gelingt, die Endzwanzigerin Anna als Mensch mit vielen Aspekten, auch unsympathischen, Widersprüchlichkeiten und vorläufigen Selbstentwürfen dastehen zu lassen. Fast jede Frau, davon geht „Nichts, was uns passiert“ als schlimme Selbstverständlichkeit aus, wird im Lauf ihres Lebens sexualisierter Gewalt ausgesetzt sein. Drogunovas Anna wird kein Opfer sein, aber nicht vergessen.

Aus epd medien 8/23 vom 24. Februar 2023

Heike Hupertz