VOR-SICHT:„Zwei Seiten des Abgrunds“, sechsteilige Miniserie, Regie: Anno Saul, Idee und Buch: Kristin Derfler, Kamera: Martin L. Ludwig, Produktion: Warner Bros (RTL+ ab 8.5.23, Warner TV Serie, ab 8.5.23 jeweils montags 20.15-21.45 Uhr)
epd Die Serie beginnt wie so oft mit einer Szene, die erst gegen Ende der Serie erzählt wird. Die Luftbildkamera erfasst eine einsam gelegene Waldhütte. Ein heftiger Wortwechsel zwischen einem Mann und einer Frau. Ein Rabe späht durchs Fenster. Ihre Handgelenke sind an eine Stuhllehne gefesselt. Eine Waffe kommt ins Spiel. Dann fällt ein Schuss.
So soll das Interesse des Publikums geweckt werden - und es wird auch kaum erlahmen. Der Drehbuchautorin Kristin Derfler und Regisseur Anno Saul gelingt es, über die sechs Folgen dieser Miniserie die vielfältigen Facetten der Geschichte aufzufächern und zugleich so dicht und packend zu erzählen, dass Genrefreunde ohne Abstriche auf ihre Kosten kommen.
Hauptfigur der Serie ist die Streifenpolizistin Luise Berg (Anne Ratte-Polle). Sie wird zusammen mit ihrer Kollegin Nadisa (Senita Huskić) in einen Baumarkt gerufen, um einen tobsüchtigen Jungen festzunehmen. Fabio heißt das Früchtchen, Luise kennt den Jungen bereits, reagiert gelassen auf seine Provokationen. Im Hinausgehen schaut Luise beiläufig in Richtung Kasse und entdeckt ein vertrautes Gesicht. Sie hat sich nicht getäuscht: Bei dem Kunden, der ihren Blick lächelnd erwidert, handelt es sich um Dennis Opitz (Anton Dreger), der vorzeitig aus der Haft entlassen wurde. Luise ist außer sich. Der junge Mann ist der Mörder ihrer Tochter Merle (Josephine Thiesen).
Opitz wurde eine „vorbildliche Sozialprognose“ attestiert. Seine frühere Pflegemutter Yvonne Aschhausen (Ann-Kathrin Kramer) stellt ihm Wohnräume zur Verfügung, er hat einen Arbeitsplatz, meldet sich pünktlich bei seiner Bewährungshelferin. Luise Berg ist die einzige, die dieser erfreulichen Resozialisierung misstraut. Für sie ein Indiz mangelnder Läuterung: Dennis hat am Ort von Merles Ermordung einen Strauß Rosen niedergelegt. In ihren Augen eine zynische Verhöhnung der Toten und der Hinterbliebenen.
Sie berichtet ihrem Ex-Mann Manuel (Renato Schuch) von ihrem Verdacht, auch dem damals zuständigen Kriminalermittler und stellt Fragen. Vergeblich. Man unterstellt ihr Voreingenommenheit, Hysterie, Rachegelüste.
In Rückblenden wird nach und nach die Vorgeschichte erzählt. Besser gesagt, die Vorgeschichten, denn hier laufen mehrere Stränge zusammen und münden in eine komplex geartete Tragödie.
Dennis Opitz, damals ein übergewichtiger, scheuer, sprach- und lernbehinderter Knabe, der von der 17-jährigen Merle anfangs im Rahmen eines Praktikums, später auf Betreiben der mitleidigen Luise, Nachhilfeunterricht erhielt, hat sich im Gefängnis zumindest äußerlich gewandelt. Er ist jetzt schlank, sportlich, weiß sich zu artikulieren. Mit einigem Geschick wird er über eine lange Strecke als undurchsichtige Figur geführt. Mal gewinnt er die Zuschauerschaft mit einer ritterlichen Tat, mal schürt er Argwohn. Er verfolgt ganz offensichtlich einen Plan. Wohin der ihn und die übrigen Beteiligten führen soll, bleibt lange rätselhaft.
Eine wesentliche Rolle spielt Merles Schwester Josi (Lea van Acken). Sie war zehn, als Merle ermordet wurde und wahrt seither ein Geheimnis. Zufällig begegnet sie Dennis in einem Club. In dem gescheiten, ansehnlichen jungen Mann erkennt sie den Dennis von damals nicht wieder. Das ist nur eine der Verwicklungen, die konstant für ausgeklügelten Nervenkitzel sorgen.
Der Alltag der Streifenpolizistinnen Luise und Nadisa gerät dabei nicht aus dem Blick. Sie werden zu einem Fall häuslicher Gewalt gerufen, heben mit Kollegen einen Techno-Club aus. Diese Abstecher lenken nicht ab, sie vervollständigen das Bild und geben Einblicke in Luises Privatleben. Während ihr früherer Ehemann eine neue Familie gegründet hat, lastet der Tod der Tochter noch immer auf Luises Seele. Sie verbringt ihre Abende am Spielautomaten oder mit flüchtigen Affären.
Hauptschauplatz ist Wuppertal gewählt. Das Team weiß Kapital zu schlagen aus den Besonderheiten dieser Stadt: die Schwebebahn und die Ufer der Wupper werden gut ins Bild gesetzt. Symbolträchtig ist die spindelförmige Siedlung, in der Manuel mit seiner neuen Frau, mit Josi und zwei weiteren Töchtern wohnt, ebenso der Staudamm, der als Bindeglied zu einem weiteren Ort der Handlung fungiert.
Es gibt ein Motiv, das sich erst peu à peu erschließt, sowie Frauenfreundschaften in unterschiedlichen Generationen. Der inhaltlich reiche Sechsteiler ist mehr als ein Genrekrimi, er fordert zugleich zur gedanklichen Auseinandersetzung heraus.
Aus epd medien vom 5. Mai 2023