Vertiefender Mehrwert
Wie Journalisten über die Klimakrise berichten sollten

Klimaphänomene wie Starkregen oder die anhaltende Trockenheit führen dazu, dass in Redaktionen zunehmend darüber diskutiert wird, wie sie angemessen über die Klimakrise berichten können. Das 2021 gegründete Netzwerk Klimajournalismus hat im April eine Charta veröffentlicht, die fordert, die Klimakrise ähnlich wie die Demokratie oder Menschenrechte als Dimension jedes Themas zu begreifen. Klimajournalismus könne daher „nicht in engen Ressortgrenzen stattfinden“, stellt das Netzwerk fest. Der Medienwissenschaftler Otfried Jarren beschreibt in diesem Beitrag, wie und warum sich die Organisation in den Redaktionen ändern muss, um angemessen über die Klimakrise zu berichten. Redaktionen müssten stärker in Teams und über Ressortgrenzen zusammenarbeiten, damit der Journalismus einen vertiefenden Mehrwert bieten könne, schreibt er.

epd Im Frühjahr dieses Jahres legte das „Netzwerk Klimajournalismus Deutschland“ (https://klimajournalismus.de/ueber) eine Charta vor, in der Medienhäuser sowie Journalistinnen und Journalisten zu einem größeren Engagement in Klimafragen aufgefordert werden. In der Tat: Die Bewältigung der Klimakrise erfordert Verhaltensänderungen. Einstellungs- und Verhaltenswandel setzen Informationen, Wissen und Diskurse voraus. Nur so kann ein stärker geteiltes Verständnis über die anstehenden Gemeinschaftsaufgaben entstehen und Legitimität für politische Entscheidungen erzeugt werden.

Die Bewältigung der Klimakrise ist nur durch das aktive Mittun möglichst vieler Bürger möglich. Der Weg zur Klimaneutralität tangiert viele Lebensbereiche. Hier setzt das Netzwerk an, indem ein eigener Journalismus gefordert wird. Durch Klimajournalismus soll ein Beitrag zu einem informierten demokratischen Diskurs über die Ursachen, Hintergründe und Folgen des Klimawandels geleistet werden. Dieser sei dringlich, denn die Folgen des Klimawandels könnten in einer Katastrophe für die Menschheit enden. Bezogen auf den Journalismus heißt es: „Die Klimakrise ist kein Thema, sondern - analog zu Demokratie und Menschenrechten - eine Dimension jedes Themas. Klimajournalismus ist daher nicht an Ereignisse gebunden und kann nicht in engen Ressort- und Zuständigkeitsgrenzen stattfinden.“

Normative Aufforderung

Im engen zeitlichen Kontext mit der Initiative erging ein Urteil des deutschen Bundesverfassungsgerichts. Am 29. April 2021 hat das Gericht das Klimaschutzgesetz des Bundes in Teilen für verfassungswidrig erklärt, weil die Freiheits- und Grundrechte zukünftiger Generationen zu wenig beachtet würden. Klimaschutz erfordere die zügige Umsetzung anspruchsvollerer Ziele und eine generationenübergreifende Perspektive. Der Gesetzgeber ist gefordert, bis Ende 2022 ist ein modifiziertes Gesetz vorzulegen.

Die Zeit drängt also, um eine gesellschaftliche und parlamentarische Debatte zu führen und demokratische Beschlüsse herbeizuführen. Die politischen Vorgaben müssen mitgetragen und akzeptiert werden. Das wird nicht einfach sein: Zum einen nimmt der Druck auf der Straße mit Aktionen wie denen der „Letzten Generation“ und um die Automobilität erwartbar zu. Zum anderen werden die Entscheidungen in einer Zeit getroffen, die reich an weiteren Krisen und Herausforderungen ist. Hohe Inflationswerte, steigende Mieten, Zinsen, Energie- oder Lebenshaltungskosten werfen Gerechtigkeits- und Verteilfragen auf. Wohlstandsverluste und Zukunftsängste beeinflussen erwartbar die Debatten um eine globale Klimagerechtigkeit.

Den verfassungspolitischen Auftrag aus Karlsruhe, adressiert an den Staat, fasst das Netzwerk Klimajournalismus als normative Aufforderung an den Journalismus auf. Natürlich kann das Gericht Medien nicht auf eine bestimmte Berichterstattung verpflichten, wohl aber kommt dem Urteil kommunikative Relevanz zu. Das Diktum des Gerichts fordert zum öffentlichen Diskurs auf, es verweist auf die Notwendigkeit wie Dringlichkeit gesellschaftlicher Debatten über transformative politische Prozesse. Es ist kein Zufall, dass eine unabhängige Instanz, die nicht auf Wahlen starren muss, die nicht auf Amtsperioden oder auf die Sicherung von Mehrheiten zu achten hat, zu diesem perspektivischen Urteil gelangt ist.

Das Netzwerk Klimajournalismus steht mit seinen Forderungen nicht allein. So hat eine Initiative für ein Sendeformat „Klima vor acht“ geworben, um die Bevölkerung regelhaft zu informieren und zu sensibilisieren. Die Wetterberichterstattung wurde zum Teil modifiziert. In größeren journalistischen Analysen finden Klimaphänomene verstärkt Beachtung. Stiftungen fördern Projekte zum Klimawandel, in denen Transfer- oder Informationsmaßnahmen vorgesehen sind. Der Klimakommunikation wird in den Wissenschaften für die Aufklärung der Gesellschaft eine große Bedeutung zugewiesen.

Im Fokus steht zumeist die Wissenschaftskommunikation. Die Covid-Pandemie hat die Aufmerksamkeit für den Wissenschaftsjournalismus steigen lassen. Zum Wissenschaftsjournalismus gibt es größere Initiativen des Bundesministeriums für Bildung und Wissenschaft, der VW-Stiftung und aktuelle Analysen der wissenschaftlichen Akademien - zumeist jedoch ohne besonderen Bezug zum Klimajournalismus. In den Papieren werden generell die bestehenden Defizite im Wissenschaftsjournalismus herausgehoben. Aufgrund der medialen Schwächen werden wissenschaftliche Einrichtungen zu einem intensiveren und direkten Austausch mit der Gesellschaft angeregt. Entsprechend werden die Kommunikationsabteilungen ausgebaut, neue Weiterbildungsangebote für Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler etabliert.

Zu nennenswerten Veränderungen in den Redaktionen der Medien aber ist es nicht gekommen. Im Gegenteil: Hier ist ein Abbau der Ressourcen festzustellen. Das macht deutlich, dass in den Medienhäusern, die von der universellen und aktuellen Berichterstattung kulturell geprägt sind, die Bedeutung von fachlicher und wissenschaftlicher Kommunikation noch nicht erkannt wurde.

Nachhaltigkeitsdebatte

Die Vorstöße und Reflexionen im Kontext der Klimathematik haben zu ersten zaghaften Debatten über die Rolle des Journalismus geführt. Bemerkenswert sind zwei Dinge: Der Bezug zur Debatte über den Wissenschaftsjournalismus ist gering. Und die Anstöße und Überlegungen gehen über die engere Klimathematik hinaus. Es geht um die Entwicklung hin zu einer klimaneutralen, einer nachhaltigen Gesellschaft.

Vor allem die Bereiche Verkehr, Energie und Ernährung werden im engen Zusammenhang mit Klimaphänomenen diskutiert, denn die Entwicklungen dort haben direkte und indirekte Auswirkungen auf das Klima und die gesamte Umwelt. Die Folgen der Mobilität, die Wahl der Energieträger, der Energieverbrauch oder die Produktion von bestimmten Nahrungsmitteln wirken sich auf das Klima und die Umwelt aus.

Die Klimadiskussion ist also zugleich eine Umwelt- und Nachhaltigkeitsdebatte. Die Zahl an Issues und Themen, an Aktions- und Handlungsfeldern ist immens groß, die Komplexität damit hoch. Vermag ein auf Klima spezialisierter Journalismus diese thematische Breite und Vielfalt abzudecken?

Die Debatten in den genannten Bereichen stehen in einem engen Zusammenhang, doch werden die Diskussionen überwiegend isoliert, zudem im Kreise von Expertinnen und Experten und vor allem in Fachmedien geführt. Den spezialisierten Akteuren gelingt es dabei nicht immer, die Interdependenzen zwischen Bereichen zu sehen, Erkenntnisse übergreifend darzustellen. Es werden in jedem Bereich fachlich anspruchsvolle Sachverhalte verhandelt. Der Bezug zu wissenschaftlichen Erkenntnissen wie laufenden Fachdiskursen ist hoch. Sicheres und unsicheres Wissen sind gleichermaßen Bestandteil der Diskussionen im fachlichen Rahmen.

Faktenfülle und Datenflut

Das erklärt, weshalb diese Diskussionen immer einen gewissen internen Charakter haben (sollen). Empfehlungen für politische Maßnahmen oder für das Verhalten im Alltag lassen sich daraus nicht ohne weiteres ableiten.

Die fachlich interne Debatte muss sein, in ihr werden aber auch Widersprüchlichkeiten sichtbar, die heute schneller als zuvor in die allgemeine Öffentlichkeit gelangen, weil fachlich unterschiedliche Bewertungen auf Twitter ausgetragen werden. Deshalb ist die Beteiligung von Journalistinnen und Journalisten bereits in diesen Prozessen wichtig, damit sie bezogen auf die Kommunikation in die allgemeine Öffentlichkeit urteilsfähig sind. Unsicheres Wissen und widersprüchliche Erkenntnisse und Positionen können von interessierten Akteuren für ihre jeweiligen Ziele eingesetzt oder instrumentalisiert werden - die Erfahrungen mit Covid-19 lehren das. Die Bewältigung der Pandemie ist zwar anspruchsvoll, aber nicht so herausfordernd wie die Bearbeitung der wesentlich komplexeren Klimakrise.

Wenn nun Entscheidungen unter Bedingungen von erheblich mehr Unsicherheit und von großer Tragweite vorzubereiten und zu treffen sind, so ist das politische Institutionensystem wie der Journalismus in besonderer Weise gefordert. Es gilt, die Faktenfülle und Datenflut zu bewältigen, Themen herauszuarbeiten, diese für Diskussionen so aufzubereiten, dass in Diskursen Lösungsvarianten gefunden und evidenzbasierte Entscheidungen getroffen werden können.

Spezialisten und Generalisten stehen oftmals im Widerstreit, zumal dann, wenn mit Entscheidungen normative Zielsetzungen, Eingriffe oder Umverteilungsmaßnahmen verbunden sind. Hier kann fachlich kompetenter Journalismus für Transparenz sorgen, Wissen bereitstellen und Argumente wie Vorschläge eigenständig beurteilen. Das aber setzt die kontinuierliche Beobachtung der fachlichen und der (fach-)politischen Diskussionen voraus, ohne dass daraus immer ein Beitrag entstehen kann. Doch gibt es genug fachlich qualifizierte Journalistinnen und Journalisten, stehen genug Ressourcen zur Verfügung, und wo finden die Beiträge ihren Platz?

Spezialisierte Akteure agieren in definierten (Politik-)Feldern, in denen fachlich voraussetzungsreiche und anspruchsvolle Probleme verhandelt werden. Für diese Diskussionen gelten feldspezifische Regeln und Normen, es werden Fachbegriffe benutzt, es wird an definierte Zielgruppen adressiert. Nur ein Teil dieser Debatten kann in den aktuellen, universellen Medien Eingang finden. Deshalb finden vertiefende Informationen und spezifisches Wissen in der Berichterstattung der publizistischen Medien erst dann Beachtung, wenn sie im politischen Entscheidungskampf aufgegriffen werden.

Kompetenz von Fachjournalisten

Der aktuelle Journalismus ist häufig zu sehr auf etablierte Politikfelder, auf die dort ausgetragenen grundsätzlichen normativen Streitigkeiten und die damit in Verbindung stehenden etablierten Personen orientiert. Streit, Personen und Normfragen stehen im Zentrum der Berichterstattung, langwierige Diskussionsprozesse und Fachfragen verblassen hingegen. Die Selektivität im politischen Journalismus ist nachvollziehbar, macht aber den Bezug auf fachliche Begründungen nicht überflüssig. Der politische Journalismus sollte deshalb verstärkt auf die Kompetenz von Fachjournalistinnen und -journalisten zugreifen. Das ist aber nur möglich, wenn innerhalb der Redaktionen diese Kompetenz institutionalisiert und eine Kultur der Kooperation bei Beiträgen etabliert ist. Dies ist erkennbar immer mehr der Fall, so in der Wirtschaftsberichterstattung.

Zudem muss der Journalismus auf den politisch-institutionellen Wandel reagieren: Klimakommunikation ist ein interdisziplinäres und globales Feld. Politikfelder hingegen sind stabile Handlungssysteme, wesentlich durch maßgebliche nationale politische Institutionen, Ministerien und parlamentarische Ausschüsse geprägt. Sie sind träge, weil in ihnen die bereits etablierten Interessen aus Wirtschaft und Gesellschaft versammelt sind. Interministerielle, interdisziplinäre Anliegen oder neue Interessen haben es aufgrund tradierter Bearbeitungs-, Verhandlungs- und Kommunikationsstrukturen schwer, sich einzubringen oder durchzusetzen. Doch der Wandel wird von außen getrieben, Veränderungen werden von nicht etablierten Gruppen international eingefordert.

Die Charta des Netzwerks Klimajournalismus macht auf den Einbezug, auf die Repräsentation von (neuen) Interessen aufmerksam. Doch ließe sich das Problem allein durch einen spezialisierten Klimajournalismus lösen?

Eine journalismusinterne Debatte über Klimajournalismus ist interessant, weil danach zu fragen ist, was Journalismus soll und will, wie journalistisches Handeln organisiert ist und wie er organisiert sein könnte. Organisationen und Organisationsweisen sind maßgeblich, wenn es um Zuständigkeiten, definierte Rollen, also in der Produktion um Routinen und Effizienz, geht. Organisational wird zudem bestimmt, wie die Gesellschaft beobachtet und in welcher Form über sie berichtet wird.

Thematische Angebote

Der Journalismus ist auf die politischen Räume des Nationalstaats orientiert und vergleichbar wie die politischen Institutionen organisiert. So gibt es Lokal-, Landes-, Bundes- oder internationale Berichterstattung. Die Berichterstattung erfolgt durch spezialisierte Journalisten aus entsprechenden Ressorts und die Vermittlung in Form von tradierten Formaten. Nur fallweise wird die Beobachtungs- und Vermittlungsstruktur aufgebrochen - in Krisenzeiten. Covid-19 oder der Krieg in der Ukraine haben, zumeist durchgängig im Online-Angebot, zu thematisch gebündelten Berichterstattungsformen geführt. Thematische Angebote existieren zunehmend ebenso in Form von digitalen Newslettern.

Der Umgang der Medien mit Covid-19 hat gezeigt, dass es den Medien zwar gelungen ist, die Krise zu begleiten, wissenschaftliche Erkenntnisse darzustellen und partiell zu bewerten, aber zu eigenständigen analytischen Formaten kam es nur in einem sehr geringen Maße - trotz Wissenschafts- und Datenjournalismus. Die Entwicklung eigener Kriterien, gar Indikatoren für die Messung und Darstellung von Entwicklungen mag ein hoher Anspruch sein. Die systematische Analyse und Bewertung von (offiziellen) Daten sollte aber zum Programm eines sich um Informations- und Wissensqualität bemühenden Journalismus gehören.

Corona trat überraschend auf, von diesem Phänomen waren global alle Menschen unmittelbar und zudem in einer vergleichsweise kurzen Zeitspanne direkt betroffen. Die für die Problembearbeitung zuständigen wissenschaftlichen und administrativen Institutionen existierten bereits, es gab eine hinreichende Basis an gesichertem Wissen. International wurde die Wissensbasis kontinuierlich und rasch ausgebaut. Es war nur ein Phänomen zu beachten: das Virus. Man konnte die Ausbreitung des Virus und seiner Effekte national und international auf Basis offizieller Daten verfolgen. Die unterschiedlichen Entwicklungen wurden mittels Indikatoren erfasst, grafisch beobachtbar und vergleichbar gemacht.

Corona löste auf dieser Datenbasis einen globalen Wettbewerb aus, welches politische System diese Krise am besten meistern kann. Es gab Debatten über unterschiedliche Problemsichten und Lösungsansätze und natürlich auch Streit darüber, aber es gab - und das ist ein Unterschied zum Klimawandel - relativ rasch Möglichkeiten, um das Phänomen zu verstehen, die Situation zu kontrollieren und unter Mitwirkung der Bevölkerung zu bewältigen. Impfstoffe und Impfen sowie angepasstes Verhalten auf Zeit als Lösung.

Zwar war zu Beginn der Verbreitung des Virus dieser Weg noch unklar, aber bald gab es klare Lösungswege, die mittels Verhaltensänderungen individuell mitgestaltet werden konnten. Trotz der Debatten, des Streits und mancher Emotionen machten sich kollektiv viele Menschen auf den Weg zur Bewältigung der Krise. Covid-19 wurde und wird als globale Herausforderung anerkannt. Covid hat eine thematisch fokussierte Berichterstattung zur Folge gehabt, ein eigener Journalismus hat sich aber nicht etabliert.

Schleichender Prozess

Woran erkennt man den Klimawandel? Am Wetter, an den Ozonwerten, am Rückgang des Eises an den Polen, dem Rückgang beim Permafrost, an Überschwemmungen, Hitzeperioden, Wassermangel, Tsunamis, Verlust an Biodiversität, an einzelnen Extremereignissen hier und dort? Der Klimawandel gehört - und das ist ein Unterschied zu Covid - zu den wicked problems, zu jenen Phänomenen, die mehrdeutig und daher unterschiedlich wahrnehmbar sind und keine einheitliche kollektive Betroffenheit und Aufmerksamkeit auszulösen vermögen.

Wicked problems können nicht einfach einem Problemfeld zugeordnet werden. Ursachen und Folgen sind nicht leicht zu erkennen und kausal darstellbar. Beim Klimawandel handelt es sich zudem um ein unobstrusive issue, ein eher unaufdringliches Thema. Unaufdringlich deshalb, weil es sich um einen lang verlaufenden Prozess handelt, der stark von vielen Einzelereignissen geprägt ist, die zudem nicht alle direkt beobachtbar sind. Und falls etwas beobachtet wurde, so erfahren wir davon aus den Medien. Zumeist ist unklar, ob es sich um ein erstmaliges Ereignis oder um einen anhaltenden Veränderungsvorgang handelt. Nicht immer gibt es weitere oder ältere Beobachtungen oder Daten, gar Zeitreihen und somit Vergleichsmöglichkeiten.

Klimawandel ist ein schleichender Prozess, ein Prozess, dessen Anfang und Ende nicht so klar sind. Creeping problems lassen sich schwer erkennen, sie lassen sich weniger leicht und eindeutig einer Problemfamilie zuordnen. Schließlich: Da wir in der Mediengesellschaft Probleme, Risiken oder Krisen vor allem durch die fokussierte Medienberichterstattung wahrnehmen, und weil der Journalismus seinen Selektions- und Aufmerksamkeitsregeln (Nachrichtenwerte) folgt, ist die kollektive Wahrnehmung aufseiten der Gesellschaft von Natur-, Umwelt- oder Klimaproblemen stark von den issue attention cycles der Medien abhängig. Was findet wie und wie lange mediale Aufmerksamkeit?

Klima-, Verkehrs-, Energie- und Ernährungsthemen oder Nachhaltigkeit werden zwar in den Medien behandelt, haben aber aufgrund ihrer fachlichen Besonderheit keine gesicherten Orte - weder in der Redaktion noch im publizistischen Angebot. Es fehlt für die Nutzerinnen und Nutzer an spezifischen, wiederkehrenden Vermittlungsformen. Es ist also noch nicht ausgemacht, wie mit diesen komplexen und zugleich globalen Phänomenen einerseits politisch und andererseits journalistisch umgegangen werden kann. Wer ist für was zuständig?

Neue Formen der Berichterstattung

Auf die politische Problematik der Kompetenzen soll hier nicht eingegangen werden, hinzuweisen ist auf die laufende wissenschaftliche Debatte, wie eine Governance für transformative Politik, die demokratischen Ansprüchen genügt, für Klima, Verkehr oder Energie konstituiert werden könnte. Allein der Nationalstaat wird es nicht richten können. Unbestritten ist, dass es einer transformativen Politik bedarf und dass neue Formen der Bereitstellung von Informationen und Wissen und weitere Formate für die Vermittlung und Debatte nötig sind.

Transformation setzt die Diskussion über (neue) gesellschaftliche Normen und Leitbilder voraus, zumal dann, wenn ein Einstellungswandel angestrebt werden muss. Tradierte Handlungsweisen müssen überprüft, vielleicht infrage gestellt, und neue Produktions-, Konsumptions- und Lebensweisen müssen entwickelt und erprobt werden. Am Klimawandel wird die Notwendigkeit zum politischen Handeln wie zur Notwendigkeit einer Veränderung von Lebensweisen und Lebensstilen deutlich, aber ist er der Einstiegspunkt für transformative Ansätze und Prozesse?

Covid-19 und der russische Angriffskrieg haben in den aktuellen Medien zu neuen Formen der thematischen Berichterstattung geführt. Zum einen wird chronologisch-verdichtet und systematisch-analytisch mit den Entwicklungen bekanntgemacht. Zum anderen werden spezialisierte Informationen und Diskussionen verarbeitet. Beides fließt von Fall zu Fall in die aktuelle Berichterstattung ein. Vor allem für die Covid-19-Berichterstattung sind erste Formen eines datengestützten Journalismus etabliert und Formen der grafischen Berichterstattung entwickelt worden. Dieses Potenzial gilt es für die Berichterstattung über Verkehrs-, Energie-, Ernährungs- oder Klimaphänomene zu nutzen.

In den Online-Angeboten kann ein stärker fachlich orientierter Journalismus betrieben werden, es können die Nutzerinnen und Nutzer gezielter angesprochen und einbezogen werden. Die mit der Entwicklung hin zu einer nachhaltigen Gesellschaft verbundenen Herausforderungen betreffen Lebensstile. Einstellungs- und Verhaltensänderungen werden vor allem auf Basis der Bereitstellung von Informationen und Wissen und mittels dialogischer Formate zu erreichen sein. Die Vermittlung von Alltagserfahrungen, die Berichterstattung über die gute Praxis auf anderen Kontinenten oder an anderen Orten können dazu beitragen, gesellschaftliche Lernprozesse anzustoßen.

Neuer, aktiver Journalismus

Das ist kein einfacher Weg für den Journalismus. Er setzt Veränderungsbereitschaft, die Klärung von Rollenverständnissen, redaktionellen Routinen und Formaten voraus. Doch das ist ohnehin angezeigt: Der aktuelle universelle Journalismus verliert an Aufmerksamkeit, er schrumpft. Journalistische Angebote stehen im digitalen Markt zunehmend in Konkurrenz zu Produkten von anderen Akteuren, so aus Stiftungen, der Zivilgesellschaft oder der Wissenschaft. Viele Akteure stellen Informationen und Wissen auf Websites oder Plattformen bereit. Auch Unternehmen, Interessengruppen und PR-Akteure agieren auf dem Markt, versuchen, Öffentlichkeiten für sich zu gewinnen.

Funktional und normativ bedarf die Marktveränderung eines neuen, aktiven Journalismus: um Anbieter und Angebote zu prüfen, auszuwählen, zu bewerten und um das für die allgemeine Öffentlichkeit als relevant Erachtete bereitzustellen. Es bedarf eines Journalismus, der im öffentlichen Auftrag agiert, der verstärkt selbst fachliche und wissenschaftliche Beiträge bereitstellt und andere Angebote prüft und bewertet. Je vielfältiger und unübersichtlicher das Informations- und Wissensangebot wird und je mehr Interessengruppen mit Informationen und Wissen Politik machen, desto mehr bedarf es eines fachlich ausgewiesenen, unabhängigen Journalismus.

Es geht dabei nicht um ein Entweder-oder: Die transformative Gesellschaft ist sowohl auf den aktuellen, universellen Journalismus, der die Debatte um die Leitbilder der Gesellschaft mit voranbringt, als auch auf den fachlich und wissenschaftlich ausgewiesenen Journalismus angewiesen. Die bestehenden Defizite im Wissenschaftsjournalismus sollten zu denken geben. Obwohl (Fach-)Wissen an Bedeutung gewinnt für gesellschaftliche und persönliche Entscheidungen, stagniert der Wissenschaftsjournalismus. Covid hat keinen nachhaltigen Schub auszulösen vermocht.

Wettbewerbe für gute Lösungen

Ohne eine Änderung bei der Bearbeitung wie der Bereitstellung von Themen auch unter wissenschaftlichen Aspekten wird sich die Nachfrage aufseiten der Nutzerinnen und Nutzer nicht erhöhen. Das bedeutet sowohl, dass Redaktionen zunehmend interdisziplinär und in Teams arbeiten, als auch, dass sie neben Aktuellem Hintergrund und Vertiefung bieten. News sind, in welcher Qualität auch immer, in großer Zahl und kostenlos verfügbar. Ein auf Publikumsbindung und Zahlungsbereitschaft orientierter Journalismus muss einen fachlichen, vertiefenden Mehrwert bieten können.

Die Onlinebereitstellung ermöglicht Formen der verknüpften Bereitstellung (aktuell, hintergründig, systematisch) und Formen der Beteiligung. Gefragt und nötig ist ein Journalismus, der im Prozess hin zur nachhaltigen Gesellschaft relevante Informationen jeweils aktuell vermittelt, der zudem (Hintergrund-)Wissen dauerhaft bereitstellt (etwa in Form von Wikis) und aktualisiert, der Nutzerinnen und Nutzer mitzunehmen und der Wettbewerbe für gute Lösungen anzustacheln vermag. Es bedarf eines Journalismus, der Beispiele für Gelungenes bereitstellt und damit sowohl überraschend und anstößig als auch alltagsdienlich ist.

Aus epd medien 33-34/22 vom 19. August 2022

Otfried Jarren