Temporäres Anreizprogramm
Die Transformation der öffentlich-rechtlichen Medienhäuser

epd Die digitale Transformation des öffentlich-rechtlichen Rundfunks findet derzeit weitgehend ungesteuert statt. Über Reformen wird viel diskutiert, aber es gibt keinen systematischen Prozess. Am Anfang eines solchen Prozesses müsste die Frage stehen: Was sollen öffentliche Medienhäuser für die Gesellschaft leisten? Der Medienwissenschaftler Otfried Jarren fordert ein Anreizprogramm, um den Change-Prozess möglich zu machen. Sein Beitrag basiert auf Überlegungen zu den strukturellen Bedingungen für die Etablierung eines öffentlichen Medienhauses, die Jarren beim Mainz Media Forum „Wind of Change? Die Zukunft des öffentlichen Rundfunks“ des Mainzer Medieninstituts am 23. Juni vorgetragen hat (epd 26/23). Unter anderem schlägt der ehemalige Professor am Institut für Kommunikationswissenschaft und Medienforschung der Universität Zürich einen Zukunftsfonds für den Reorganisationsprozess vor.

epd Der öffentliche Rundfunk wird nicht reformiert: Er ist einem Transformationsprozess unterworfen, auf den zahlreiche Akteure Einfluss haben. Die Transformation findet unter Bedingungen eines raschen technologischen Wandels, sehr dynamischen Markt- und neuen, maßgeblich von der Europäischen Union beeinflussten Regulierungsbedingungen statt. Zwar beabsichtigt der deutsche Gesetzgeber keine Neuinstitutionalisierung des öffentlichen Mediensektors, aber es ist vor dem Hintergrund des gesellschaftlichen und medialen Wandels nötig, über die institutionellen Normen, Regeln, Werte und Ziele öffentlich finanzierter Medien zu verhandeln und eine neue organisationale Verfassung zu finden.

Dazu gehört eine Verständigung darüber, was die Kernleistungen öffentlicher Medien in einer sozial und kulturell differenzierten Einwanderungsgesellschaft sein sollen. Auf Basis neuer Leitbilder, Normen und Ziele gilt es, die Organisation zu entwickeln, die sich unter gänzlich neuen Vermittlungsbedingungen mit ihren Leistungen weiterhin auf die Gesamtgesellschaft zu beziehen hat. Die im Kern auf Broadcasting-Leistungen ausgerichtete Organisation muss auf ein erweitertes publizistisches, aber journalistisches Leistungsprogramm ausgerichtet werden. Der Change-Prozess ist höchst anspruchsvoll. Zu ihm gehören: Verzichtsplanung, Redistribution von Ressourcen, die Gründung neuer Einheiten, Leistungserbringung unter veränderten organisations- oder arbeitsrechtlichen Bedingungen.

Change-Prozess mit vielfältigen Risiken

Digitale Transformationsprozesse sind nichts für staatliche Behörden. Politische Akteure sollten sich, nicht nur wegen der Unabhängigkeit der Medien, soweit nur möglich, operativ aus der Organisationsentwicklung heraushalten, sieht man einmal von allgemeinen Zielvorgaben ab. Und die Aufgabe der Gremien ist vorrangig konzeptionell und begleitend: Mitwirkung an der Konkretion wie Umsetzung der politischen Vorgaben und Leitbilder für die Organisation. Es geht vor allem um die Begleitung und Kontrolle der von der Organisation geführten Prozesse. Im Prozess der Organisationsentwicklung bedarf es einer klaren Kompetenz- und Aufgabenzuweisung zwischen den steuernden und gestaltenden Akteuren. An der fehlt es noch wie auch an projektspezifischen Steuerungs- und Kontrollgremien über alle öffentlichen Anstalten hinweg.

Der Transformationsprozess wird sich erwartbar über einen längeren Zeitraum erstrecken, es sind zahlreiche Organisationseinheiten beteiligt und viele Schnittstellen zu beachten, er wird deshalb intern und extern konfliktiv sein, Debatten auslösen. An dem Prozess wirken also viele Köche und stimmgewaltige Gastrokritiker mit. Der Change-Prozess tangiert nicht nur Strukturen, sondern vor allem Inhalte, Verbreitungsformen, Sendungen und Sendeplätze. Er tangiert die alltägliche Nutzungspraxis, die Erwartungen und Interessen des Stammpublikums. Es bedarf nicht nur einer erklärenden Gesamtkommunikation, sondern der gezielten Ansprache aller Publika.

Im anstehenden Reorganisationsprozess wird man Fehler machen, es wird Flops geben, Neustarts ebenso. Das darf so sein. Das öffentliche Medienhaus muss sich als lernende Organisation etablieren können. Das Selbstentwicklungspotenzial muss gestärkt werden. Der Transformationsprozess muss in den Händen der Organisation selbst liegen, ihr muss man Vertrauen entgegenbringen.

Und natürlich wird dieser Prozess, der ein technischer Investitions-, ein organisationaler Reorganisations- und inhaltlich-programmlich ein Neuentwicklungsprozess ist, Ressourcen benötigen. So geht es um Innovationen, um neue Angebote, neue Aufgaben und neue Kompetenzträger. Ein Chief Information Officer beispielsweise ist schwer zu gewinnen, er kann mehr Gehalt erwarten als ein Programmdirektor. Von den Kosten für Softwareentwicklung einmal ganz zu schweigen. Es bedarf erwartbar zusätzlicher Ressourcen, es bedarf eines flexibel nutzbaren „Zukunftsfonds“. Ein temporäres Anreizprogramm ist eine Bedingung für die Ermöglichung des Wandels. Dieses Anreizprogramm besteht noch nicht.

Zukünftige Kernleistungen eines öffentlich finanzierten Medienhauses müssen sein:

1. Die Gesellschaft beobachtbar machen

Aus öffentlichkeits-, integrations- und demokratietheoretischen Überlegungen ist an der Idee der Bereitstellung von Informationen und Wissen für alle, an der Idee einer geteilten Public Agenda und einer gemeinsam geteilten Wissensbasis festzuhalten. Bezogen auf Wissen ist der Beitrag öffentlicher Medien deutlich zu verstärken. Die Gesellschaft differenziert sich immer weiter aus, die Möglichkeiten zur gesellschaftlichen Beobachtung nehmen ab, der Wunsch nach Beteiligung nimmt zu. Wissen wird daher wichtiger.

Normativ wie funktional muss daher ein robuster Leistungsbeitrag bezüglich Information und Wissen für alle Gesellschaftsmitglieder geboten werden. Und dieses Angebot muss die Menschen erreichen, muss sich unter High-Choice-Bedingungen durchsetzen. Wegen der sich ständig verändernden Anbieter- und Angebotsstrukturen, so bei Plattformen, und aufgrund der vielfältiger werdenden Informations- und Kommunikationsrepertoires auf Seiten der NutzerInnen muss durch eine Angebotsstrategie für alle, also die Gesamtgesellschaft, für Beständigkeit gesorgt werden. Es bedarf auch der redundanten Kommunikation, um die BürgerInnen mit Information und Wissen zu erreichen.

Es bedarf daher sowohl in gebündelter Form bereitgestellter als auch in linearer Weise distribuierter Informations- und Wissensangebote. Nur diese Form der Bereitstellung sichert eine gewisse Reichweite. Vor allem aber werden so vielfältige Nutzungsoptionen unter Viel-Kanal-Bedingungen ermöglicht. Das Angebot muss so aufbereitet und distribuiert werden, dass die BürgerInnen um Angebotsorte und -zeiten wissen, um sich - dauerhaft wie im Fall des Falles - zuverlässig informieren zu können. Und auf ein qualitativ hochstehendes Angebot werden sich auch andere Akteure wie Journalisten beziehen.

Das öffentliche Qualitätsangebot als Referenzpunkt: Wechselseitige Beobachtung und Folgekommunikation über die Medienkanäle hinweg kann so ermöglicht werden. Zum Credo des öffentlichen Medienhauses sollte die Bereitstellung eines umfassenden, pluralen Informations- und Wissensangebots gehören: leichte Zugänglichkeit, einfache Sprache, aber auch Mehrsprachigkeit bei Kernangeboten.

2. Die sozial differenzierte Gesellschaft ermöglichen

Die gebündelte Bereitstellung und lineare Distribution von Informations- und Wissensofferten ist nicht nur normativer Auftrag für öffentliche Medien, sondern stellt zugleich eine wesentliche Voraussetzung dafür dar, dass den BürgerInnen basierend auf diesem Angebot weitere, vertiefende und ergänzende oder spezialisierte Angebote gemacht werden können im Sinne einer digitalen Nutzerführung. Dieses spezialisierte Angebot darf durchaus den persönlichen Interessen der BürgerInnen dienen, also personalisiert oder algorithmisch distribuiert werden: der Einzelne oder Gruppen als Adressaten.

Das vertiefte Informations- und Wissensangebot, konzipiert im Sinne eines virtuellen Archivs (als Wissensspeicher oder Wissensplattform), kann mit Partnern wie privaten Medien, kollaborativ produziert, kooperativ bereitgestellt und mittels einer gemeinsamen Suchmaschine verfügbar gemacht und nach nicht kommerziellen Logiken erschlossen werden. Die zuverlässige, geprüfte Informations- und Wissensbereitstellung im öffentlichen Interesse als Leistung aller publizistischen Medien.

3. Die wissensbasierte Gesellschaft mit entwickeln

Immer mehr kollektive, also gesellschaftliche und politische, aber auch individuelle Entscheidungen müssen auf der Basis von zuverlässigem Wissen, geprüften Daten oder Expertenempfehlungen getroffen werden. Der Bezug auf Wissen, das Wissen um Methoden, der Umgang mit Daten oder der Zugang zu Expertise gewinnen in vielen Lebensbereichen an Bedeutung. Informations-, Wissens- und Methodenkompetenzen sind bedeutsam, je mehr in beliebiger Weise Informationen wie Daten im Netz verbreitet oder Meinungen als Wissen ausgegeben werden. Hier kommt den öffentlichen Medien ein Qualitätssicherungsauftrag zu.

Der soziale und technische Wandel erfordert zudem eine kontinuierliche informale wie formale Qualifizierung und Weiterbildung (lifelong learning). Die schulischen und beruflichen Qualifikationen reichen für berufliche wie private Entwicklungen allein nicht mehr aus. Von niederschwelligen informalen Qualifikations- bis hin zu zertifizierten Weiterbildungsangeboten, beispielsweise in Form von Blended-Learning-Programmen, sollte das Angebot reichen. Bildungsangebote sind zudem aus teilhabe- wie integrationstheoretischen Überlegungen anzustreben: Sei es, um älteren BürgerInnen die Teilhabe am digitalen Prozess zu ermöglichen, sei es, um formal gering qualifizierte Gruppen für berufliche und gesellschaftliche Aufgaben zu qualifizieren. Durch diese Angebote kann zudem ein Beitrag zur Integration geleistet werden.

4. Die deliberative Gesellschaft ermöglichen

Plattformen oder Messengerdienste machen aus der bislang von professionellen Akteuren geprägten Mediengesellschaft, in der verbindliche Kommunikationsnormen galten, eine für alle Akteure offene Kommunikationsgesellschaft: Jede und jeder kann Mitteilungen jeglicher Art, Meinungen wie Fakten und relevante wie irrelevante und falsche Dinge bereitstellen. Regel- und Normverstöße gehören nun zum kommunikativen Alltag. Sie können die gesellschaftliche Kommunikation gefährden. Durch Webwatching und die gezielte Auseinandersetzung mit der Netzkommunikation, von den Themen und den Akteuren bis hin zu Kommunikationsstilen sollte durch das öffentliche Medienhaus ein Beitrag zur Zivilisierung der gesellschaftlichen Kommunikation - so durch das Sichtbarmachen von und der Auseinandersetzung mit Kommunikationsweisen - geleistet werden.

Bezogen auf Themen aus dem digitalen Raum, der als neue vorpolitische Öffentlichkeitssphäre verstanden werden kann, sollten dauerhaft wie situativ Debattenräume sowie entsprechende Formen angeboten werden. Durch die Ermöglichung des Austausches, durch Moderation oder den anwaltschaftlichen Einbezug von Interessen kann zur Zivilisierung der Mitteilungs- und Diskussionskultur beigetragen, können neue Formen für Diskussionen und Deliberation entwickelt werden. Durch das Aufgreifen von Themen in anderen Angeboten kann zudem für Anschlusskommunikation gesorgt werden.

5. Kulturelle Differenzierung erlebbar machen

In Deutschland leben derzeit 23,8 Millionen Menschen mit Migrationshintergrund und 13,4 Millionen AusländerInnen. Wie ist es um deren Möglichkeit für den Kultur- oder Spracherwerb jenseits formaler Bildungsanbieter bestellt, und wie ist es um den Sprach- und Kulturerwerb der anderen BürgerInnen bestellt? Der kulturelle Austausch zwischen den Gruppen, das Verständnis für Gemeinsamkeiten wie Unterschiede in kulturellen Lebensfragen oder religiösen Glaubensfragen macht höchst unterschiedliche Angebote und Austauschformen notwendig. Sprach- und Kulturwissen gehören im Zusammenhang mit den Europäisierungs- und Globalisierungsprozessen zu den basalen Kompetenzen.

Einwanderungsgesellschaften bedürfen vielfältiger, unterschiedlicher und auf Dauer angelegter Sozialisationsagenturen. Den öffentlichen Medien kommt dabei eine Schlüsselrolle zu: Sie sind formal unabhängig, können kontinuierlich anbieten und vermitteln und als Intermediäre zwischen unterschiedlichen kulturellen Gruppen wirken. Die Sozialisation im europäischen Raum, einem Raum der kulturellen Vielfalt und der Mehrsprachigkeit, muss faktisch Realität werden. Mehrsprachige Medienleistungen gehören dazu, von Medien gezeigte kulturelle Vielfalt ebenso.

Aus epd medien 30/23 vom 28. Juli 2023

Otfried Jarren