Ende Mai hat der Bayerische Rundfunk (BR) seine großangelegte Hörproduktion „Die Quellen sprechen - Die Verfolgung und Ermordung der europäischen Juden durch das nationalsozialistische Deutschland 1933-1945“ nach der 16. Folge abgeschlossen. Schauspielerinnen und Zeitzeugen lasen dafür Auszüge aus Hunderten von ausgewählten Originaldokumenten wie Zeitungsberichten, Verordnungen, Tagebuchaufzeichnungen und Privatbriefen von Tätern, Opfern und Beobachtern. Hinzu kamen flankierende Gespräche mit beteiligten Historikern und Historikerinnen, Zeitzeugen und Hörspielmachern. Die Dokumente wurden von den BR-Redakteuren Katarina Agathos und Herbert Kapfer gemeinsam mit der Historikerin Susanne Heim ausgewählt aus der im Verlag De Gruyter veröffentlichten Edition „Die Verfolgung und Ermordung der europäischen Juden durch das nationalsozialistische Deutschland 1933-1945“. Die Quellen-Edition wurde herausgegeben im Auftrag des Bundesarchivs, des Instituts für Zeitgeschichte München und Berlin sowie des Lehrstuhls für Neuere und Neueste Geschichte der Universität Freiburg. 2016 erhielten Kapfer, Agathos und der Hörverlag für die Organisation der Höredition den Deutschen Hörbuchpreis für die beste verlegerische Leistung. Im Internet ist die Produktion unter https://die-quellen-sprechen.de/ abzurufen.
epd Nicht zufällig fand das editorische Mammutprojekt „Die Verfolgung und Ermordung der europäischen Juden durch das nationalsozialistische Deutschland 1933-1945“ seinen produktiven Kooperations- und Verbreitungspartner 2013 beim Bayerischen Rundfunk. Denn dessen wagemutige Redaktion Hörspiel und Medienkunst, damals unter Leitung von Herbert Kapfer, hatte sich schon zuvor mit zeitgeschichtlichen Produktionen profiliert, und dies auf Reflexions-, Recherche- und Interviewbasis.
So gewann beispielsweise 2010 Michaela Meliáns vom BR produziertes Hörspiel „Memory Loops“ Anklang und Preise. Diese multimediale Erinnerungstopographie der Installationskünstlerin markierte im Internet auf Münchner Stadtplänen und auch in der Stadt selbst Streuung und Zentren nationalsozialistischen Terrors. In dreihundert Kreisen mit korrespondierenden Tonspuren regte Melián Fußwege und Gedankengänge an, stellte zudem in fünf noch in der Audiothek abrufbaren dokumentarischen Hörspielen totalitäre Maßnahmen und Einzelschicksale von Zeitzeugen und Naziopfern vor.
Weit gespannter Ansatz
Konzentriert sich „Memory Loops“ strikt auf die Region, so zielt „Die Quellen sprechen“ komplementär auf die immense Dimension der nationalsozialistischen Judenverfolgung, die auf große Teile Europas übergriff. Diese internationale Perspektive besticht als Alleinstellungsmerkmal des Projekts. Durch zahlreiche vorher unveröffentlichte Dokumente, aber auch bei vielbehandeltem Material unterscheidet es sich so von den meist territorial begrenzten üblichen Untersuchungen zum Thema. Der weitgespannte Ansatz überzeugt, weil er das Omnipotenzstreben des totalitären Nazisystems als Voraussetzung für dessen expandierende Schreckensherrschaft ernst nimmt. Entsprechend den seinerzeit beliebten Propagandaversen „... und heute gehört uns Deutschland und morgen die ganze Welt“ führte dieser Allmachtswahn in radikaler Konsequenz zu Katastrophen, zum Vielfrontenkrieg und zum Holocaust.
Wie sich in den von Hitlers Wehrmacht besetzten Regionen und Ländern die Judenverfolgung bei aller Gleichschaltung doch verschieden krass und in unterschiedlichen Gemengelagen entwickelte, zieht sich als blutroter Faden durch die 16 jeweils mehr als 800-seitigen Bände der Edition und durch die ebenso vielen darauf aufbauenden Hörstücke, deren Abfolge sich chronologisch und geografisch gliedert. Die 2013 initiierte akustische Produktion wurde nun nach zehn Jahren und insgesamt 16 großen (jeweils mehr als 80 Minuten langen) Hörstücken beendet.
„Die Quellen sprechen“ behauptet sich als Publikumsmagnet im Internet. Katarina Agathos, die sich als BR-Redakteurin von Anfang an kontinuierlich der Produktion gewidmet hat, kann auf Resonanz bauen: Durchschnittlich wurde, wie sie sagt, die akustische Produktion von 35.000 Interessenten pro Monat abgerufen. Die besonders dynamischen Abschlussfolgen „Ungarn 1944-45“ sowie „KZ Auschwitz 1942-45 und die Zeit der Todesmärsche 1944/45“ brachten eine Steigerung mit 175.000 Abrufen im Mai.
Oft koppelt die akustische Inszenierung bekannte Fakten mit neu entdeckten Facetten und ungewohnten Perspektiven. Grundlegend bezeugen die ersten beiden Folgen „Deutsches Reich 1933-1937“ und „Deutsches Reich 1938 - August 1939“ so den Schock der Judendiskriminierung und -entrechtung, die seit Hitlers Machtergreifung einsetzten. Danach untersuchen zwei Beiträge den nationalsozialistischen Umbruch im „Protektorat Böhmen und Mähren, September 1939 - September 1941“ und im von deutschen Truppen überfallenen „Polen September 1939 - Juli 1941“, während sich Folge 5 auf den Spuren deutscher Heeresvorstöße und Einflussnahmen „West- und Nordeuropa 1940 -1942“, also Luxemburg, Belgien, den Niederlanden, Frankreich und Norwegen zuwendet.
Die Beiträge 7 und 8 dokumentieren die Ausschaltung und Auslöschung von Juden in sowjetischen Gebieten unter deutscher Militärverwaltung, die Folgen 9 bis 12 die Verschärfung von antijüdischen Maßnahmen und Deportationen in Polen, Böhmen und Mähren und Frankreich bis 1945. Folge 13 durchleuchtet Judenverfolgungen in der Slowakei, Rumänien und Bulgarien, Folge 14 antijüdische Umtriebe im Balkan und verheerende Exzesse im deutsch besetzten Griechenland, und dies im Kontrast zu der eher zurückhaltenden Judenpolitik im italienischen Faschismus, den 80 Prozent der dort lebenden Juden überlebten.
Tiefensondierung und Übersicht
Wie lässt sich eine solche Fülle vielfältiger und vielfach bezeugter Extremereignisse überhaupt akustisch nahebringen? Durch Mut zum weit gespannten Zugriff und durch Mut zum Weglassen. Beides hatten wissenschaftliche Bearbeiter und akustisch versierte Autoren: Von den 300 Dokumenten, die jeder Band der Edition enthält, bietet jedes Hörstück nur etwa 30, also ein Zehntel. Diese drastische Reduktion ist der schwierigste Teil der Umsetzung, der Sachverstand, analytische Klugheit und seismographischen Sinn für die Vermittlung politischer Stimmungslagen verlangt. Herbert Kapfer berichtete 2014 beim „Forum Essay“ in München über die Arbeit an jedem Auswahlmanuskript als teamwork in progress, dessen vorläufiges Ergebnis jeweils schließlich bei der „Projektkoordination“ landete (zeitweise Herbert Kapfer, durchweg Susanne Heim vom Institut für Zeitgeschichte und Katarina Agathos vom BR), wo „der intensivste Austausch bis in letzte Details“ stattfand (dokumentiert in epd 24/14).
Wer alle Folgen hört oder schon wer nur in Stichproben reinhört, bekommt Eindrücke vom prägnanten Resultat dieser Textauswahl in Etappen. Jedenfalls gelingt es dem akustischen Projekt, in dem Arrangement die relevante Substanz und das reale spannungsreich vielperspektivische Nebeneinander der Ereignisse zu vermitteln, das akustischen Montageformen entgegenkommt. Und trotz Materialeinbußen werden die Inszenierungen ein Gewinn, weil sie Stil- und Sprachebenen differenzieren, den Worten Verweildauer und Gewicht geben. Die Regisseure Ulrich Gerhardt und Ulrich Lampen schaffen es, ohne musikalische Phrasierung oder Soundeffekte widersprüchliches gleichzeitiges Geschehen rein verbal transparent herauszustellen. Die durchdachten Montagen ermöglichen so zweierlei: Tiefensondierung und breite Übersicht.
Den zentralen Ansatz der Inszenierung verrät schon der Titel. „Die Quellen sprechen“, und sie sprechen für sich. Hier gewinnen sie durch die mündliche Präsentation an Eindringlichkeit, wenn es den beteiligten Sprechern gelingt, sich von Melodramatik fernzuhalten und keine Rolle zu spielen, sondern den authentischen Texten nachzuspüren. Matthias Brandt und Bibiana Beglau meistern das in den ersten vier Folgen unter der Regie Ulrich Gerhardts klug und modellhaft. Der Wucht bürokratischer Anordnungen und dem Wust jäh ausgeheckter Gesetze zur Entrechtung, Enteignung und Existenzbedrohung von Juden gibt Brandts distanzierte Stimmführung auch in den Folgen 5, 7, 9 und 12 kühle Schärfe. In allen anderen Folgen vertritt Michael Rotschopf einen ähnlich kognitiven Ansatz.
Bedrohte Individualität
Als weibliche Stimme überzeugt ab der fünften Folge Wiebke Puls, während die Regie Ulrich Lampens, der mehrfach auch am Skript mitgearbeitet hat, den Spannungsreichtum der Texte herausstellt. Überhaupt demaskiert die mündliche Präsentation in allen Folgen nationalsozialistische Sprachregelungen. Eine vertuschende Leitvokabel wie „Deportation“ hat dabei ohne Weiteres den Beiklang von Mord. Die suggestive Formel „Endlösung der Judenfrage“, die mit „Judenfrage“ ein Phantom erfindet und aufbläht und mit „Endlösung“ das Riesenverbrechen der Täter als Schuld der Opfer ausgibt, wird in der akustischen Version als pure Propaganda markiert und enttarnt. Die Verlogenheit dieser zentralen Totschlagwortkopplung wird hier nicht analysiert, sie ist elementar zu hören.
Zwischen solchen starken Erkenntnismomenten gehen die persönlichen Zitterpartien und Hoffnungen verfolgter Juden beim Zuhören nahe und nach. Der tiefe Anklang, den hier Liebes- und Abschiedsbriefe, Tagebücher und Hilferufe finden, wird durch ein Grundmuster der Inszenierung der Hörstücke verstärkt: Die akustische Montage setzt nicht nur auf den Wechsel, sondern mehr noch auf den Widerstreit von persönlichen Äußerungen und offiziellen Willkürmaßnahmen, und dies durch besondere Besetzung mit vielen charakteristischen Stimmen: Hier kommen, bewegt und bewegend, oft einzelne betroffene Zeitzeugen des Holocaust zu Wort, die sich nur knapp vorstellen mit der eigenen gerafften Überlebensgeschichte, bevor sie sich ganz ihrem Part im Hörstück, der Notsituation eines anderen Verfolgten, widmen.
Die Wirkung dieses Produktionseinfalls ist grundsätzlich und nachhaltig: Beteiligt sind hier viele Überlebende des Holocaust wie Esther Bejarano, Bea Green, Alfred Grosser, Charlotte Knobloch, Uli Siegel, Trude Simonsohn, Georg Stefan Troller und andere, die die Website des Projekts vorstellt. In der akustischen Inszenierung vertreten sie den persönlichen Lebens- und Liebesentwurf, den der Nationalsozialismus ausrotten wollte. So werden sie hier Fürsprecher und Fürsprecherinnen der im totalitären System bedrohten Individualität.
Das gigantische Projekt „Die Quellen sprechen“ ist langfristig im Internet zugänglich. Ist es damit ganz abgeschlossen? Katarina Agathos verneint die Frage, denn sie plant eine englische Übersetzung der Hörstücke, die im Internet stehen soll. Nicht nur für englischsprachige Nachkommen von Naziopfern, sondern überhaupt für internationale Resonanz des international angelegten Projekts ist dies von höchstem Interesse.
Aus epd medien Nr. 26 vom 30. Juni 2023