Das traditionsreiche Fernsehfilm-Festival in Baden-Baden hat sich verändert: Unter dem neuen Veranstaltungstitel Televisionale zeigte der Wettbewerb vom 21. bis 25. November formatübergreifend hochwertige Produktionen des linearen und nichtlinearen deutschen Fernsehens (vgl. Meldung in dieser Ausgabe). Das seit 1989 bestehende Fernsehfilm-Festival wurde unter der künstlerischen Leitung von Urs Spörri neu ausgerichtet und an Gegebenheiten des veränderten Medienmarktes angepasst. Öffentlich-rechtliche Sender haben nicht mehr das Privileg, Wettbewerbsbeiträge selbst zu nominieren. Die Televisionale ist eine gemeinsame Veranstaltung der Deutschen Akademie der Darstellenden Künste und des Senders 3sat.
epd In der Provinz geschehen bekanntlich skurrile Morde. Liegt die Provinz dann noch in Österreich, wird es besonders schauerlich. In dem Landkrimi „Vier“ (ORF/ZDF) entdecken Feuerwehrleute in Krumau am Kamp, einem abgelegenen Dorf im Norden der Alpenrepublik, beim Abpumpen des überschwemmten Kellers eines Wohnhauses drei verscharrte Säuglingsskelette. Der Gemeindepolizistin Ulli Herzog (Julia Franz Richter) geht dieser Fall besonders an die Nieren. Nach zwei Fehlgeburten ist die junge Beamtin nämlich gerade wieder schwanger. Ihr Ehemann, Betreiber des örtlichen Lebensmittelladens, erwartet, dass sie sich dem traditionellen Mutterbild fügt. Am besten hängt die Frau Inspektor ihren Job an den Nagel.
Auch die Zusammenarbeit mit ihrer hochnäsigen Vorgesetzten vom Landeskriminalamt, Oberst Marion Reiter (Regina Fritsch), die im Wagen raucht, obwohl sie doch weiß, dass die Kollegin in anderen Umständen ist, ist kein Zuckerschlecken.
Stimmiger Landkrimi
Auf den ersten Blick nichts mit dem Fall zu tun hat Herzogs ehemaliger Lehrer, der suspendiert wurde, weil er sich an Schülerinnen vergriff. Mit Beharrlichkeit und Einfühlungsvermögen stößt die Gemeindepolizistin schließlich auf eine Spur. Die psychisch labile Vorbesitzerin des überschwemmten Hauses hat ihre Säuglinge jeweils nach der Entbindung umgebracht. Warum sie nie des Mordes verdächtigt wurde? Als ultrareligiöse Frau hielt sie ihre Schwangerschaften geheim. Die Vorfälle liegen 20 Jahre zurück. Die inzwischen in einer Psychiatrie untergebrachte Frau brachte damals einen weiteren Säugling zur Welt. Diesen ließ sie jedoch am Leben. Nichts auf der Welt fürchtet sie mehr als die Wiederkehr dieses Kindes, von Kind Nummer vier.
Kinderleichen, Angststörung, Fehlgeburten, Frömmigkeit, Pädophilie und obendrein noch Intersexualität: Nach der Liste der verhandelten Themen zu urteilen, könnte man einen prätentiösen Problemfilm erwarten. Doch die Autorin und Regisseurin Marie Kreutzer, deren aktuelle Kinoproduktion „Corsage“ über die österreichische Kaiserin Elisabeth kürzlich als österreichischer Beitrag in das Rennen um den Auslands-Oscar geschickt wurde, verwebt dieses abenteuerliche Themengespinst zu einem stimmigen Landkrimi. Genremuster verbindet sie mit liebenswürdigen Randbeobachtungen. So trifft die Ermittlerin eine alte Freundin im Dorfcafé. Man hört, wie die Bedienung einen Stammkunden fragt, ob er „noch einen Verlängerten“ will. Dieser antwortet mit Rücksicht auf seinen Blutdruck: „In zehn Minuten fragst mich noch mal.“
Mit der Neuausrichtung der Televisionale hat sich auch die Zahl der Einreichungen vergrößert. Neben den schon seit 1996 partizipierenden Privatsendern werden nun auch das Bezahlfernsehen und Streaminganbieter mit einbezogen. Neben dem traditionellen Fernsehfilmpreis wird jetzt auch eine Auszeichnung für die beste deutsche Serie vergeben. Das Festival reagiert damit auf Veränderungen der Sehgewohnheiten unter anderem durch Streamingangebote.
Der Fokus des Festivals lag wie früher auch auf der Arbeit der Hauptjury. Wie bei kaum einem anderen Festival kommuniziert die Jury nach wie vor ihren Entscheidungsprozess in einer vor Publikum ausgetragenen Diskussion. Erstmals nahmen in diesem Jahr auch abwechselnd Mitglieder der Studentenjury an den Diskussionen der Hauptjury teil.
Man konnte den Eindruck haben, dass es der Jury diesmal stärker um einen respektvollen Dialog auf Augenhöhe ging als in früheren Jahren. Vorangetrieben wurde dieser konstruktive Diskurs durch den Jurypräsidenten Dominik Graf. Als Regisseur, der bei seiner eigenen Arbeit besonderen Wert auf die Entfaltung der Darsteller legt, war es ihm ein wichtiges Anliegen, dass Schauspieler nicht nur Drehbuchtext ablesen. Wiederholt plädierte Graf dafür, Darstellern Raum zu lassen, den sie mit kleinen, unvorhergesehenen Gesten jenseits des Skripts anreichern.
Exemplarisch gelungen sei dies bei dem Landkrimi „Vier“, befand die Jury und sprach - wenig überraschend - den Fernsehfilmpreis, den die Deutsche Akademie der Darstellenden Künste gemeinsam mit dem Sender 3sat auslobt, diesem Film zu: „Statt auf Effekte und Themen zu setzen, versteht es die Filmemacherin, mit Respekt bis zur Zärtlichkeit den Figuren ihr Geheimnis zurückzugeben.“ Julia Franz Richter als Gemeindepolizistin und Regina Fritsch in der Rolle der launischen Vorgesetzten vom Landeskriminalamt überzeugten als „grandioses Ermittlerinnen-Duo“. Dominik Graf hob zudem Manuel Rubey und Laurence Rupp hervor, die „ein Männerpaar mit großer Selbstverständlichkeit“ verkörpern. Beide erhielten einen Sonderpreis für herausragende schauspielerische Leistungen. Ein weiterer Sonderpreis wurde verliehen an das Darstellerinnen-Duo Meret Becker und Bella Dayne im „Tatort: Das Mädchen, das allein nach Hause geht“ (ARD/RBB).
Sprache, betonte Graf, sei nicht nur ein Werkzeug zur Vermittlung von Informationen, die die Handlung vorantreiben. Der Regisseur brach eine Lanze für das Sprechen in regionaler Mundart, das Schauspielern bei konventionellen TV-Produktionen oft untersagt wird. Der Dialekt verleihe Rollen ihre Glaubwürdigkeit. Im Landkrimi „Vier“ sprachen die Darsteller einen österreichischen Akzent, der allerdings zuweilen so breit war, dass Zuschauer in Baden-Baden sich Untertitel gewünscht hätten.
Brutale Frauenmorde
Dass einige Darsteller in der qualitativ hochwertigen Sky-Produktion „Der Pass“ auch einen regionalen Akzent pflegen, ist kein Zufall. Für den Pay-TV-Sender realisierte das Regieduo Philipp Stennert und Cyrill Boss eine deutsch-österreichische Version des skandinavischen Welterfolgs „Die Brücke“. Die Polizistin Ellie Stocker (Julia Jentsch) aus dem bayerischen Berchtesgaden und der von Wien nach Salzburg versetzte Kommissar Gedeon Winter (Nicholas Ofczarek) legten in der ersten Staffel einem Serienmörder das Handwerk.
Die zweite Staffel führt dieses Motiv fort. Dominic Marcus Singer spielt einen musisch begabten, reichen Erben, der am berühmten Salzburger Mozarteum eine Absage erhält und daraufhin Frauen brutal ermordet.
Die Verleihung des neuen Serienpreises an diesen schauerlichen Mehrteiler überrascht, denn Gewalt gegen Frauen und sexuelle Übergriffe waren ein bestimmendes Thema fast aller Jurydiskussionen. Sechs von zehn ausgewählten Fernsehfilmen zeigten oder handelten von Vergewaltigungen. Auch in der zweiten Staffel von „Der Pass“ wird eine Frau bestialisch umgebracht. Gezeigt wird diese Bluttat jedoch nicht. Zu sehen ist das Opfer nur auf kurz eingeblendeten Polizeifotos.
Die Serienjury unter dem Vorsitz der Schauspielerin Lavinia Wilson erklärte, sie vergebe den Preis an „'Der Pass' nicht weil, sondern obwohl es ein Krimi ist“. Obwohl der Plot auf den ersten Blick konventionell erscheine, verschiebe die Serie „die Grenzen des Genres“. Sie lasse Räume, „die das großartige Ensemble mit reduziertem und präzisem Spiel meisterhaft zu füllen weiß und die in beeindruckender Perfektion zu einem stimmigen Gesamtkunstwerk zusammengefügt wurden“. Ästhetik, Kamera, Ausstattung und Sounddesign könnten bei dieser Produktion im internationalen Vergleich mithalten.
Heillose Kompetenzrangeleien
Auch die Jury der Filmstudenten zeichnete eine Serie des Pay-TV-Senders Sky aus. Der Mehrteiler „Munich Games“ greift ein historisch relevantes Motiv auf: Im Rahmen einer Gedenkfeier für jene israelischen Opfer, die während der Olympischen Spiele 1972 ermordet wurden, organisiert der Sportmanager Jackie Igelski am 50. Jahrestag ein Freundschaftsfußballspiel zwischen dem von ihm gesponserten israelischen Team und einer deutschen Mannschaft. Ausgetragen werden soll das Match im Münchner Olympiastadion - also nahezu am gleichen Ort, an dem die palästinensischen Terroristen des „Schwarzen September“ seinerzeit Israelis ermordeten.
In düsteren Bildern erzählt Philip Kadelbach, wie deutsche Behörden sich durch heillose Kompetenzrangeleien im Kampf gegen Antisemitismus und islamistischen Terror gegenseitig blockieren. Arabische und israelische Darsteller, darunter der „Shtisel“-Star Dov Glickman, verleihen der Serie Authentizität. Entsprechend beeindruckt äußerte sich die Studenten-Jury: „Das ist State-of-the Art - wie eine internationale Thriller-Serie heute aussehen sollte.“
Der Regisseur Matti Geschonneck, ein „Garant des Qualitätsfernsehens“, hatte sich zum Jahrestag der Wannseekonferenz in Berlin an eine Neuverfilmung des brisanten Besprechungsprotokolls von Adolf Eichmann gewagt. Sein Film und das Buch von Magnus Vattrodt folgen im Wesentlichen dem Buch der ersten Verfilmung von 1984, das Paul Mommertz geschrieben hatte. Mommertz wird daher auch als Mitautor in den Credits genannt.
Mit einem hochkarätigen Ensemble, darunter Philipp Hochmair als Leiter des Reichssicherheitshauptamtes Reinhard Heydrich und Godehard Giese in der Rolle des Juristen Wilhelm Stuckart, der die Nürnberger Gesetze verfasste, inszenierte Geschonneck jenes Schlüsselereignis, das den Zivilisationsbruch bürokratisch plante. Auf der historisch verbürgten Besprechung des Jahres 1942 beschlossen hochrangige Nazis die „Endlösung der Judenfrage“. Im Film mutet dieses Treffen an wie die Vorstandssitzung eines Konzerns, dessen Aufsichtsräte in eitel gedrechseltem Bürokratendeutsch um Kompetenzen rangeln. Die 3sat-Zuschauer verliehen den Publikumspreis an „Die Wannseekonferenz“. Dominik Graf sagte in der Jury-Diskussion: „Man erstarrt vor der Masse des historisch Stattgefundenen.“
Präzise Beobachtungen
Die Auszeichnung MFG-Star 2022 für die beste Nachwuchs-Regiearbeit ging an das sympathische Debüt „Ladybitch“ von Paula Knüpling und Marina Prados. Das geringe Budget dieses Films, der ohne Senderbeteiligung entstand, kompensierten die beiden Regisseurinnen durch ihr stimmiges Konzept. Im Stil einer Fake-Dokumentation beobachtet der Film die Proben einer Theatergruppe, deren Regisseur seine Machtposition ausnutzt und die Hauptdarstellerin sexuell bedrängt. Trotz dieser ernsten Thematik wurde bei diesem Film mehr gelacht als bei vielen anderen. Der zündende Witz basiert auf präzisen Beobachtungen der Regisseurinnen, die Klischees des subventionierten Kulturbetriebes aufspießen. MFG-Star-Juror Sönke Wortmann befand, der Film sei „ein Drahtseilakt“. Dieser hätte „gewaltig schiefgehen können, aber mit Hilfe eines exzellenten Ensembles, das seine Figuren ernst nimmt und nicht verrät, gelingt dieser Film auf beeindruckende Weise“.
Zu den eindringlichsten Seherlebnissen des Festivals zählte „The Ordinaries“. Die Koproduktion des Kleinen Fernsehspiels des ZDF von Sophie Linnenbaum ist eine einzigartige Mischung aus beschwingtem Musical und origineller Komödie über fiktive filmische Charaktere, die in einem gigantischen Produktionsbetrieb ein mal luxuriöses, mal verarmtes Dasein fristen - je nachdem, ob sie Hauptfiguren oder Charaktere mit limitierten Dialogzeilen sind. Dank einem gigantischen Aufwand an Komparsen verblüfft dieser Film mit einem schier unerschöpflichen Stakkato szenischer Ideen. Fabian Zeidlers Score zu „The Ordinaries“ wurde mit dem Rolf-Hans Müller Preis für Filmmusik ausgezeichnet.
Die neu ausgerichtete Televisionale hat sich als breit aufgestellte Leistungsschau des deutschsprachigen Qualitätsfernsehens etabliert. Grenzen zwischen dem linearen Fernsehen, Streamern und Pay-TV sind durchlässiger geworden. Einige Produktionen des Privatfernsehens steuerten eine andere Tonalität bei, so dass man sich in Baden-Baden auch amüsieren und entspannen durfte. Die Streamingserie „Faking Hitler“ von RTL+ erzählt mit Verve die Geschichte des bauernschlauen Konrad Kujau, der die Hitler-Tagebücher fälschte. Moritz Bleibtreu verkörpert ihn in der wohl besten Darstellung seiner bisherigen Karriere.
In die 80er Jahre entführte eine weitere Produktion des Kölner Privatsenders: „Der Rebell - von Leimen nach Wimbledon“ erinnert mit opulenten Hochglanzbildern an die unglaubliche Erfolgsgeschichte des rothaarigen Tennis-Stars Boris Becker. Dieser sei „der erste glückliche Mensch, den wir in diesem Festival gesehen haben“, räumte Dominik Graf in der Jury-Diskussion ein. Einen Preis hat der Film über den glücklichen Menschen aus Leimen trotzdem nicht bekommen.
Aus epd medien 48/22 vom 2. Dezember 2022