Rumoren im Maschinenraum
Eine MDR-Tagung zu Medien und Europa

epd Bereits zum dritten Mal lud der Mitteldeutsche Rundfunk (MDR) am 20. und 21. September zur Europäischen Public Value Konferenz. Unter dem Titel „Medien und ihr Gemeinwohlbeitrag in und für Europa“ diskutierten Journalisten, Politikerinnen, Juristen und Wissenschaftlerinnen in Leipzig über die Rolle und die Freiheit der Medien in Europa. MDR-Intendantin Karola Wille betonte die Bedeutung von Europa als „Raum der Aufklärung“. Doch dieser Diskursraum ist gefährdet, stellte Uwe Kammann fest, der die Tagung beobachtete.

epd Die Septembersonne dringt durch das Glasdach des Auditoriums in der Leipziger Media City auf dem MDR-Gelände. Es erklingt Klaviermusik: Elena Bashkirova spielt ein Menuett von Mozart. Ein wirklicher Europäer sei der Komponist gewesen, vielsprachig, offen, weit gereist. Ein Vorbild für uns, ein Ansporn: „Kultur ist so wichtig für die Menschen.“ Doch findet sich auch Moll in den Worten der in Moskau geborenen Pianistin, die seit langem in Berlin lebt, beim besonderen Blick auf ihr Geburtsland und die Beziehungen zu Europa: „Es gibt keine großen Hoffnungen in den nächsten Jahren.“

Europa: Darum ging es bei dieser dritten Public Value Konferenz, welche der MDR gemeinsam mit der Handelshochschule Leipzig veranstaltete. Es ging um einen grundlegenden Befund, um die Beschreibung der komplexen Wirklichkeiten, die mit dem Begriff verbunden sind, natürlich auch um das Ausmessen der Möglichkeiten.

Vielfältiger Begriff

Wie ist Europa zu begreifen, in welcher Form spiegeln es die Medien, wie wiederum sind die Medien in den so verschiedenen Ländern des Kontinents organisiert und verfasst, wie sind die regulatorischen Grundlagen? Und: Welches Bild, besser: welche Bilder Europas vermitteln sie, welche politischen Muster, auch Zielsetzungen sind ihrer jeweiligen Arbeit eingeschrieben? Wo liegen die Defizite, wie sehen die Bedrohungen aus?

Ein vielleicht verwegener Ansatz. Denn die Bedeutungsvielfalt des Begriffs Europa ist enorm. Europa ist Kontinent, Wirtschaftsraum, politische Union, Kulturbegriff, Geschichtslinie, der Kontinent war lange Zeit dominiert von Machtkämpfen und Kriegen. Dazu kommt, was der erfahrene Publizist Roger de Weck so beschrieb: „Wir erleben einen Umbruch sondergleichen in so kurzer Zeit.“

Günter Verheugen, einst als EU-Kommissar für Erweiterung und europäische Nachbarschaftspolitik zuständig, malte die politische Perspektive in der Schlussrunde so drastisch wie düster aus: „Ohne Emanzipation werden wir in der zweiten Hälfte des Jahrhunderts zu einer Fußnote werden.“

Zwischen diesen beiden Feststellungen lagen viele Beiträge, die zeigten, wie verschieden die Blickwinkel und die Deutungen sein können, wenn es um die mediale Einbettung des europäischen Geschehens geht. Immer natürlich auch mit dem Fragezeichen, welche rechtlichen und praktischen Grundlagen die jeweiligen Medien in ihren Ländern haben, welche Freiheiten sie genießen, welchen Zwängen sie unterworfen sind.

Roger de Weck, früher „Zeit“-Chefredakteur und Generaldirektor der SRG, hatte anfangs emphatisch Demokratie und Medien als „Zwillinge“ bezeichnet, der „Kultur der Aufklärung“ verpflichtet. Eine vielerorts in Europa bedrohte Rolle, wie er feststellte: eben nicht nur in Ungarn oder Polen, sondern auch in Ländern wie Frankreich, Italien, Großbritannien. Dem stellte er einen absoluten Appell entgegen, unter dem Siegel des Gemeinwohls: „Die Öffentlich-Rechtlichen haben die Pflicht zu Souveränität, in jeder Hinsicht.“ Auch die Formel „stolze Demut“ gebrauchte er. Die Verhältnisse in Deutschland seien „vergleichsweise gesund“.

Der ehemalige Verfassungsrichter Ferdinand Kirchhof, der in der 1. Kammer des obersten Gerichts zwölf Jahre mit Medien befasst war, umriss dies noch positiver: Hier lebten wir ,„auf einer Insel der Seligen“, die Medienfreiheit sei „normativ gut gewährleistet“. Mit der herrschenden großen Vielfalt an Medien seien wir „ganz gut versorgt.“

Wie anders dies aussehen kann, das beschrieben und bezeugten auf den Podien Journalisten aus Polen, der Slowakei, Bulgarien, Russland. Dieser genaue Blick nach Osteuropa gehörte zu den besonderen Stärken der Tagung, Folge der Brückenfunktion, die sich der MDR ausdrücklich zuschreibt.

So erfuhr das Konferenzpublikum aus erster Hand, wie Medienfreiheit eingeschränkt werden kann. Beispielsweise durch den Aufkauf von Medien durch große Konzerne, beschrieben von Aleksandra Sobczak, der stellvertretenden Chefredakteurin von „Gazeta Wyborcza“. Oder durch Einschüchterung von Journalisten, bis hin zum Mord, wie es Lydia Kokavcova aus der Slowakei berichtete: „Mehr als zwei Drittel der Journalisten fühlen sich bedroht.“ Gleichwohl klang sie entschlossen und fest: „Wir haben Angst, aber wir müssen weiterkämpfen.“

Maxim Kurnikov - vor seinem jetzigen westlichen Exil stellvertretender Chefredakteur von Radio Echo Moskau - sieht den Schlüssel für autoritäre Medienbeeinflussung wie durch Putin, Trump oder Orban in einer einfachen Methode: das Vertrauen in die Medien zu zerstören, indem die Grundbehauptung aufgestellt wird: „Jeder lügt.“ Dazu komme die Blockade vielfältiger Quellen. In Russland seien 200.000 Webseiten geblockt. Allerdings gelinge es immer noch einigen Publikationen, die technischen Schranken zu umgehen und das russische Publikum zu erreichen.

Staatliche Kontrolle

Scott Griffin, Stellvertretender Direktor des International Press Institute, zeichnete ein düsteres Bild: Global sei ein „signifikanter Rückgang der Medienfreiheit“ zu konstatieren, auf einer „autoritären Welle“, begleitet von „immer offeneren Attacken auf Journalisten, ohne wirkliche Konsequenzen“. Verzerrungen durch Machtstrukturen, persönliche Überwachungen, staatliche Einflussnahmen durch gezielte (finanzielle) Ressourceneinsätze, Einschüchterungen durch rechtliche Klagen: Alle diese Instrumente würden genutzt, um die Medienfreiheit massiv zu beschneiden. Dazu kämen „leisere Formen, die nur schwer zu erfassen sind“.

Weitere Einordnungen aus übergeordneter Sicht lieferten Lutz Kinkel vom European Centre for Press and Media Freedom und Michael Rediske von Reporter ohne Grenzen. Kinkel nannte den Zustand des öffentlich-rechtlichen Systems in Polen „schockierend“, es sei „komplett von Staatspropaganda durchdrungen“, begünstigt durch „absolute staatliche Kontrolle“: Die Opposition verfüge über gerade einmal 20 Prozent der Sitze in den drei Aufsichtsgremien. Für die hiesigen Verhältnisse sah Rediske noch keinen Grund zur gesteigerten Beunruhigung: „In Deutschland gehört wenig Mut dazu, aufrecht zu gehen.“

Hier löckte später Ferdinand Kirchhof in seinem Referat gegen den Stachel. Denn in sein grundsätzliches Lob für den normativen Zustand der hiesigen Medienfreiheit flocht er „etwas Unbehagen“ angesichts der Praxis ein. Er beobachte eine „Selbstentmachtung“. Gerade bei großen Themen wie Klimawandel und Migration sei eine „Überhöhung des politischen Mainstreams“ zu registrieren, ebenso zu viel regierungsnahe Konformität, auch die Tendenz, über eine eigene Agenda sich die Attitüde eines Lehrmeisters zuzulegen. Die „kognitive Dissonanz“ zwischen einer mehrheitlichen Wahrnehmung der Wirklichkeit und der medialen Darstellung gebe „Anlass zur Sorge“.

In der Diskussion über Medienpolitik in Europa wandte sich Kirchhof anschließend klar gegen Bestrebungen der Europäischen Kommission, über den European Media Freedom Act (EMFA) eine neue supranationale Regulierungsinstanz einzurichten (epd 41/23).

Renate Nikolay, als stellvertretende Generaldirektorin in der EU-Kommission zuständig für Kommunikationsnetzwerke, Inhalte und Technologie, stellte den Entwurf und dessen Intentionen vor. Es gehe um „Richtungsvorgaben“, um die Stärkung des öffentlich-rechtlichen Prinzips gegen Staatseinfluss und allgemein um den Schutz redaktioneller Unabhängigkeit. Es sei keine direkte Überprüfung und Kontrolle des Medienschaffens in der EU beabsichtigt, sagte sie, sondern es gehe um positive Einflussnahme in kritischen Fällen durch eine Peer-Group-Debatte der beteiligten Akteure. Der als EMFA-Instanz einzurichtende „Board“ solle lediglich seine „Meinung“ abgeben.

Supranationale Integration

Nikolay sah sich auf dem Podium dem geballten Widerstand der deutschen Teilnehmer gegenüber. Der streitbare Medienjurist Dieter Dörr ließ kein gutes Haar an dem EU-Vorstoß. Er sei schon vom Ansatz her falsch und ein „Dammbruch“. Er öffne den Weg zu weitreichenden Befugnissen und Eingriffsmöglichkeiten, übergebe der EU-Kommission eine „ihr nicht zustehende Regelungskompetenz“ auf Basis der Binnenmarktregelungen. Das sei in der Summe „alles andere als harmlos“ und drohe die hohen deutschen Standards auszuhöhlen.

Wenn es im Streitfall auf eine rechtliche Überprüfung zulaufe, warnte Dörr, dann habe die Kommission mit dem EMFA eine gute Chance, sich durchzusetzen, weil der Europäische Gerichtshof immer auf supranationale Integration setze. Dabei sei ein ganz anderes politisches Ziel notwendig und unbedingt anzugehen: ein „strenges europäisches Wettbewerbsrecht“. Er setze, basierend auf allen bisherigen Erfahrungen, auf „Freiheit“.

Sigrun Albert, Hauptgeschäftsführerin des Bundesverbands Digitalpublisher und Zeitungsverleger (BDZV), pflichtete bei, sie sehe „mangelnde Rechtsstaatlichkeit“. Auch Heike Raab (SPD), Staatssekretärin für Medien in Rheinland-Pfalz und damit eine zentrale Figur in der deutschen Medienpolitik, äußerte Kritik und Zweifel - allerdings in diplomatischem Tonfall. Notwendig sei eine „Mindestharmonisierung“ im Kreis der Mitgliedsstaaten bei einem solchen Vorhaben. Sie sei „nicht sicher“, ob in der Folge „die Lage beispielsweise in Polen oder Ungarn besser wird“. In Deutschland herrsche die „Angst vor dem Aufweichen der eigenen Regeln durch europäische Aufsichtsbehörden“.

Ganz anders sah es Ivo Indzhov, in Bulgarien Universitätsdozent für Journalismus. Wenn - wie in seinem Land - Oligarchen die Kontrolle über die Medien ausübten („der gekaperte Staat hat gekaperte Medien“), dann sei ein Eingreifen der EU „unbedingt notwendig“. Seine Kritik am EMFA zielte in eine ganz andere Richtung, er bemängelte unklare oder fehlende Sanktionsmöglichkeiten: „Ein zahnloses EU-Gesetz hat keinen Sinn“, der EMFA sei aus bulgarischer Sicht „abgehoben“. Dies bezog sich auf die interpretierende Versicherung Nikolays, es gehe bei der geplanten Verordnung lediglich um einen „Prinzipienansatz aus dem Maschinenraum der EU voller Respekt vor den individuellen Verfassungstraditionen“.

Keine europäische Öffentlichkeit

Stefan Raue, Intendant des Deutschlandradio, brachte eine gehörige Portion Skepsis in die Runde, vor allem bei der Frage nach Identitäten, auch nach einer identitätsvermittelnden europäischen Öffentlichkeit. Christine Landfried, ehemalige Professorin für Politikwissenschaft an der Universität Hamburg, hatte zuvor mit Emphase eine solche gemeinsame Öffentlichkeit gefordert, als mediale Pro-Europa-Institution, aus dem Publikum war an anderer Stelle eine Art Super-Arte gefordert worden.

Raue sagte, das sei nichts als „eine schöne Illusion“, eine von der Zielsetzung her „zwar wünschenswerte, aber unrealistische Idee“. Eher herrschten im internationalen Beziehungsfeld Befürchtungen vor, getragen von Vorstellungen, supranationale Einrichtungen könnten als Einmischungen in die inneren Angelegenheiten genutzt/missbraucht werden. Die Gegenmodelle seien wahrscheinlicher, mit dem „Zurückschlüpfen ins nationale Nest“.

Auch Günter Verheugen sagte, er habe keine Idee, wie auf supranationaler Ebene eine demokratische Öffentlichkeit zu schaffen sei. Die Darstellung der europäischen Themen funktioniere nur „durch die Filter der nationalen Medien“. Zu kritisieren sei, dass die Strukturen des Zusammenlebens derzeit nicht sichtbar gemacht würden, dass es an Zielvorstellungen fehle, „was für ein Europa ich eigentlich will“. Sein schlichtes Fazit: „Wir werden keine europäische Öffentlichkeit bekommen.“ Ein gemeinsames Modell sei schon wegen der unterschiedlichen Sprachen und der verschiedenartigen kulturellen Voraussetzungen nicht vorstellbar. Wenn überhaupt, fügte er sarkastisch an, dann gebe es nur schlechtes Englisch als gemeinsame Sprache.

Die zentrale Frage, was für ein Europa wir wollen, konnte die Tagung allerdings nicht beantworten. Sie ist offensichtlich zu groß und zugleich zu unbestimmt. Timo Meynhardt, Direktor der mitveranstaltenden Handelshochschule Leipzig, hatte sich für sein Eingangsstatement hilfsweise einen schillernden Begriff ausgedacht, den des „inneren Europäers“. Ihn gelte es zu wagen, gerade jetzt, da „das Projekt Aufklärung stottert“. Ein Bekenntnis erachtet er als zentral: „Die europäische Idee ist eine Gemeinwohlidee.“

MDR-Intendantin Karola Wille hatte in ihrer Eröffnungsrede auch dunkle Töne nicht ausgespart und den britischen Historiker Timothy Garton Ash angeführt, zusammengefasst im Urteil: Seit dem Mauerfall befänden sich die Kräfte der Ordnung und der Unordnung, der Kooperation und der Konfrontation, der Integration und der Desintegration überall auf dem Kontinent in einem fortwährenden Ringen.

Raum der Aufklärung

Daran angeschlossen hatte sie den positiven Blick auf die Friedensmission der Europäischen Union, auch auf die Anziehungskraft Europas „als weit ausstrahlender Raum der Aufklärung, mit der Trias von Freiheit, Gleichheit und Gerechtigkeit“ und seinen kulturellen Reichtümern - „und das unzähligen Konflikten, Kriegen, Kolonialismus zum Trotz“. Auch Wille sieht Europa eng mit der Gemeinwohlidee verknüpft, betont die Pflicht, dieses „schützenswerte Gut“ zu verteidigen gegen die derzeit zu erlebenden „Verengungen des Denkens und des Handelns“. Ihre Schlussfolgerung: „Daher ist es unerlässlich, diesen Raum der Aufklärung, der auch die unveräußerlichen europäischen Grundwerte absteckt, unbedingt und systematisch als Diskursraum zu begreifen.“

Ein Resümee der Tagung: Dieser Diskursraum ist äußerst notwendig, doch ist er angesichts der Wucht der internationalen Verwerfungen und der Vielzahl der widerstrebenden Interessen auch äußerst schwer zu strukturieren oder gar zu beherrschen. Die Diskurslinien in einen konsistenten Zusammenhang zu bringen, ist offenkundig eine Aufgabe für einen modernen Sisyphos.

Einem starken Satz von Marek Prawda, dem ehemaligen polnischen Botschafter in Deutschland, werden allerdings alle Teilnehmer am Ende zugestimmt haben: „Freiheit ist nur gemeinsam zu erreichen oder gar nicht.“

Aus epd medien 42/23 vom 20. Oktober 2023

Uwe Kammann