Neue Gesprächskultur
Aus der Geisendörfer-Jury Allgemeine Programme

Seit 1983 würdigt die Evangelische Kirche in Deutschland (EKD) mit dem Robert Geisendörfer Preis herausragende Leistungen deutscher Hörfunk- und Fernsehsender. Seit dem Preisjahrgang 2021 werden auch Verantwortliche und Kreative von Online-Formaten geehrt. Im Statut des Preises wird der im christlichen Sinn offene Horizont deutlich. Es sollen „Sendungen ausgezeichnet werden, die das persönliche und soziale Verantwortungsbewusstsein stärken, die zur gegenseitigen Achtung der Geschlechter und zum guten Miteinander von Einzelnen, Gruppen und Völkern beitragen, die die christliche Orientierung vertiefen und einen Beitrag zur Überwindung von Gewalt leisten“. Die Jury Allgemeine Programme tagte am 3. Mai in Mainz unter dem Vorsitz des Kirchenpräsidenten von Hessen-Nassau Volker Jung. Sie vergab insgesamt sechs Preise und den Sonderpreis (vgl. Dokumentation und Meldung in dieser Ausgabe). Heike Hupertz war Mitglied der Jury.

epd Ungesehenes und Ungehörtes sichtbar und hörbar machen, das ist eine Aufgabe des Geisendörfer-Preises. Insbesondere in Zeiten wie diesen, so empfanden es die Mitglieder der Jury Allgemeine Programme, ist engagiertes Besprechen und respektvolles Debattieren wertvoll. Denn Diskussionskultur, in der öffentlichen Debatte vom Aussterben bedroht, ist eine Graswurzelerscheinung der Demokratie. Ihre Pflege ist ebenso Sache der Preisfindung wie die Preisfestlegung am Ende der Jurydebatte.

Wir machten es uns in den Gesprächen nicht leicht. Die Entscheidung für den einen Preisträger oder die andere Preisträgerin (oder mehrere) bedeutet auch, sich gegen andere zu entscheiden. Aber Einstimmigkeit in den Abwägungen wäre andererseits verdächtig. Hier sichten und hören, diskutieren und bewerten Menschen die Produktionen, keine Algorithmen. Wir rechnen nicht aus, wir rechnen zu. Als gesellschaftlich verantwortliche Subjekte, deren Wahl gleichwohl objektivierbar ist.

Verändertes Rezeptionsverhalten

Zum zweiten Mal hat die Jury in diesem Jahr zwei „Online“-Preise vergeben. Social Media wird verstärkt in den Blick genommen. Das veränderte Rezeptionsverhalten der Jüngeren und entsprechende neue Formen werden zentraler berücksichtigt. Der Geisendörfer-Preis geht mit der Zeit, ohne Bewährtes über Bord zu werfen oder gar das christliche Fundament aufzugeben. Kern- und Herzstück der Jury-Arbeit ist der Tag der Präsenz mit der gemeinsamen, intensiven und wertschätzenden Debatte, an dem es die Preisträgerinnen und Preisträger sorgfältig abwägend auszuhandeln gilt.

Zu bewerten waren die von der Vorauswahljury weitergereichten Produktionen: Sechs aus dem Hörfunk, zehn aus dem Fernsehen, drei waren in der Kategorie „Online fernsehmäßig / Social Media (Bewegtbild)“ nominiert und drei in der Kategorie „Online radiomäßig / Social Media (Podcast)“. Bei den Fernsehproduktionen nominierte die Jury einen Beitrag nach.

In der Kategorie Online Bewegtbild / Social Media lag der Jury unter anderem das Format „Tru Doku“ vor. Auf Youtube, Instagram und Tiktok zeigt „Trudoku“ dokumentarische Kurzporträts junger Menschen, die sich einem schweren Schicksal stellen müssen oder einen Leidensweg gegangen sind. Hier wird auf eine „niedrigschwellige“ und „altersgerechte“ Ansprache geachtet, die Community nimmt regen Anteil. Positiv fand die Jury den Versuch, die Porträts nicht in üblicher Reportageweise aufzubereiten. Manche fanden die stark emotionalisierende Vorgehensweise aber schwierig.

An dem interaktiven Youtube-Reportageformat „Follow me reports“ fand die Jury das Community-Management vorbildlich. Die Themen und Storys kommen aus der Community, Reporter Robin Blase erschien „aus jeder Perspektive diskursoffen“, die gesellschaftliche Relevanz der Themen war offensichtlich. Etwa in der Folge „Mein Papa glaubt an Verschwörungstheorien“, in der es sowohl um die persönliche Geschichte als auch um Desinformation im allgemeineren Sinn geht.

Weitere Themen wie „Hotel Mama? Deshalb zieht Merle nicht aus“ oder „So ist es, Menschen beim Sterben zu begleiten“ fand die Jury gut ausgewählt für die Zielgruppe. Eine längere Diskussion entspann sich um den Neuigkeitswert.

Die ZDF-Produktion „13 Fragen“ mit den Moderatoren Salwa Houmsi und Jo Schück, die auch als Spielleiter auftreten, beeindruckte als „sehr interessantes Diskursformat“. Das „kluge Setting“ stellt Personen mit verschiedenen Ansichten und Überzeugungen zu jeweils einem Thema auf ein Spielfeld - zu Beginn maximal weit voneinander entfernt. Fragen werden gestellt, diskutiert, Übereinkünfte erzielt: die Personen bewegen sich auch bildlich aufeinander zu. Die Spielleiter moderieren kenntnisreich, kompromissorientiert und verständnisvoll.

„13 Fragen“ ist fürs Mitmachen und Mitdenken entworfen. Wie würde ich antworten? Auf wen könnte ich mich zubewegen? Das Format, so die Jury, ist der Versuch, antagonistische Gegensätze spielerisch zu überwinden. In der Folge „Hatespeech & Fake News - Zerstört Social Media unsere Demokratie?“ zeigt sich die „neue Gesprächskultur“ besonders eindrücklich. „Der Gesprächskultur eine Stimme geben“, so fasste es ein Jurymitglied zusammen. Auf Youtube funktioniert das Format sehr gut. Der Geisendörfer-Preis ging daher für „13 Fragen“ an die Autorin Katharina Lauck, den Autor Niels Folta, und die Moderatoren Salwa Houmsi und Jo Schück.

Nah und nahbar

In der Kategorie Online Audio besprach die Jury „The Cure“, einen Podcast „über die ungewöhnliche Suche nach einem Heilmittel für die größte Bedrohung der weltweiten Gesundheit: multiresistente Keime“ (Deutschlandfunk Kultur). Der Untertitel „Heilung aus dem Grab“ weist auf die spannende Geschichte hin. Dass die Erde auf einem Friedhof in Nordirland heile, klingt nach Sagenstoff. Seit mehr als 200 Jahren pilgern Kranke an diesen Ort, aber erst der Mikrobiologe Gerry Quinn kam mit seiner Bodenanalyse den Tatsachen auf die Spur: Die Erde enthält Mikroorganismen, Streptomyces, die auch bei der Bekämpfung multiresistenter Keime hilfreich sein könnten. Die Geschichte über die heilende Erde ist sehr spannend erzählt und aufregend wissenschaftlich nachrecherchiert.

Das wichtige Thema der Antibiotika-Resistenzen wird sehr gut eingeordnet ins große gesundheitspolitische Panorama. Trotz der gesellschaftlichen Relevanz passte „The Cure“ als Wissenschaftsreportage aber nicht wirklich zu den Kriterien des Geisendörfer-Preises, meinte die Jury in ihrer Abwägung.

Das war bei „Zeitkapsel“ (NDR) deutlich mehr der Fall. Vier 16-jährige Schülerinnen fragten hier: „Irene, wie hast du den Holocaust überlebt?“ Dieser bemerkenswerte Podcast schließt an die Feststellung an, dass immer weniger Zeitzeugen über ihre Erfahrungen im Holocaust berichten können. „Für die junge Generation sind die Verbrechen des Nationalsozialismus sehr weit weg“, so die Einreichungsbegründung.

Milla, Mathilda, Lonneke und Ida haben insgesamt 22 Stunden mit der 91-jährigen Irene gesprochen. Über ihre Flucht, die Deportation, das Leben im KZ und die Befreiung. Sie sind keine Historikerinnen und stellen Fragen, die ihre eigene Lebenswirklichkeit konkret widerspiegeln. Der Podcast, ihre „Zeitkapsel“, wirkt besonders nah und nahbar und rührte die Jury sehr an. Durch das Alter der Fragenden, so bemerkte ein Jurymitglied, würden die Geschehnisse und Erfahrungen „auf krasse Augenhöhe geholt“.

Die Jury sah hier auch eine starke redaktionelle Leistung. Die Spiegelung der Erfahrungen der Jugendlichen spielt eine wichtige Rolle („wie geht es uns mit den Erlebnissen von Irene?“). Anhand unbefangen gestellter Alltagsfragen fächert sich die damalige Lebenssituation von Irene auf. Geführt über Zoom, baut sich so eine Gesprächsverbindung und ein Verhältnis zwischen den Generationen auf. Gemeinsam mit den jungen Frauen sucht die in den USA lebende Irene nach deutschen Wörtern, die sie vergessen hat. So gelingt der emotionale Anschluss.

Noch beeindruckender aber war der Podcast „Die Flut“ (WDR/SWR) als Beispiel für eine herausragend erzählte Reportage in mehreren Teilen und für die Möglichkeiten des Genres. Jurymitglieder berichteten, obwohl schon so viel über die Flutkatastrophe im Ahrtal 2021 berichtet worden sei, habe sie „selten eine Geschichte so berührt“. Andere beeindruckte die Erzählweise, „mit dem Einzelfall anzufangen und dann immer weiter aufzumachen“.

Verantwortung übernehmen

Es geht auch um das extreme politische Versagen bei der Naturkatastrophe und um den medialen Aspekt, die Berichterstattung im SWR wird kritisch beleuchtet. Erzählt wird in diesem Storytelling-Podcast von der 22-jährigen Johanna Orth, die bei der Flut starb. Anhand ihres Schicksals werden sowohl die Katastrophe als auch die mangelhafte Aufklärung des Versagens der Behörden hörbar gemacht. Johannas Eltern stehen als Zeugen im Mittelpunkt. Sie fordern Aufklärung und die Übernahme von Verantwortung.

In sechs Teilen geht es spannend vom Konkreten ins Allgemeine. Ein Juror hatte Bedenken, weil O-Töne der verstorbenen Johanna aus Sprachnachrichten verwendet wurden. Was ihm zu privat schien, werteten andere Juroren positiv. Mit diesem Material sei nicht voyeuristisch umgegangen worden. „Die Flut“ bekam schließlich den Geisendörfer-Preis, er ging an die Autoren und Regisseure Till Krause, Laura Krzikalla und Marius Reichert.

Im klassischen Hörfunk waren zwei Preise zu vergeben. Ziemlich einig war sich die Jury, das sechsteilige Radiofeature „Wen dürfen wir essen?“ (Radio Bremen) von Jakob Schmidt und Jannis Funk nicht in die engere Preiswahl zu ziehen. Wenngleich die Annäherung der Autoren an das Thema Fleischkonsum aus verschiedenen Perspektiven reizvoll wirkte. Auch in der Kategorie Fernsehen war die multimediale Produktion eingereicht - dazu später mehr.

„Kriegsalltag“, ein Radiofeature von Bayern 2, verfolgt die Geschichte der Freundschaft von Julia und Katja während des Kriegs gegen die Ukraine. Julia aus Donezk floh 2014 nach Kiew, im März 2022 weiter nach München. In der Ostukraine blieb ihre Freundin Katja zurück, ebenso wie Julias Familie. Das Feature begleitet beide Protagonistinnen, sie schildern ihre vielschichtigen, auch widersprüchlichen Empfindungen. Kann Freundschaft bestehen, wenn der eigene Alltag von Angst, Wut und Unsicherheit geprägt wird?

Die Jury wertete das Stück als sehr interessant, war eingenommen von dem sehr persönlichen Beitrag. Beeindruckend fand sie, wie der Einbruch des Kriegs in den Alltag in Momentaufnahmen aufgefächert wird.

Wenig innovativ

Das Hörspiel „So ist das“ (NDR) mit Christian Redl als Sprecher des Monologs eines greisen Künstlers, der auf sein Leben zurück- und in eine ungewisse Zukunft vorausblickt (nach Jon Fosse), fand die Jury „großartig“. Es kam jedoch nicht in Preisnähe.

Bei der Hörfunkreihe „Du sollst nicht ... - Wie die 10 Gebote unser Leben bestimmen“ (Radio Bremen) fanden manche die Idee gut, Mini-Hörspiele in die den einzelnen Geboten gewidmeten Folgen einzubinden, die Umsetzung überzeugte allerdings weniger. Gastgeber Jens Becker fragt seine Gäste Margot Käßmann und Kriminalpsychologin Lydia Benecke etwa danach, warum Menschen sich nicht an die 10 Gebote halten. Auch Prominente kommen zu Wort. Diese Umsetzung erschien wenig innovativ.

Das NDR-Radiofeature „Adam & Ida“ bildete ein weiteres unglaubliches Kapitel der Erzählungen gegen das Vergessen des nationalsozialistischen Terrors. Der Hörfunkbeitrag führe deutlich vor Augen, wie wichtig es ist, die Erinnerung lebendig zu halten, befand die Jury. Die jüdischen Zwillinge Adam und Ida wurden 1943 getrennt, als sie drei Jahre alt waren. Erst nach 53 Jahren fanden sie sich wieder. Im Detail erzählt das Feature die Odyssee der Geschwister durch KZ und Versteck, wie sie bei polnischen Pflegefamilien aufwuchsen und ihre weiteren Lebenswege. Eine eindrucksvolle Erzählung „über Verlust, Zugehörigkeit und die verzweifelte Suche nach Identität“.

Das Hörspiel „Campo“ von Deutschlandfunk Kultur beeidnruckte die Jury sehr. Regisseurin Friederike Wigger schuf aus einem Text der mexikanischen Autorin Laura Uribe ein Hörspiel zu den kriminellen Zuständen in Mexiko, wo Drogenkartelle über Zivilbevölkerung, Polizei und Justiz herrschen. Menschen verschwinden, werden ermordet aufgefunden oder bleiben verschollen.

Suchaktionen nach den Resten der Verstorbenen, an denen Laura Uribe teilnahm, Gespräche mit Hinterbliebenen, Rechtsmedizinerinnen und Polizistinnen und die Reflexionen über die Berechtigung, im Namen der Betroffenen zu sprechen, fügten sich auf großartige Weise zu dieser Produktion, so der Tenor der Jurydebatte. „Aufsehenerregend investigativ recherchiert“, sei das Ausmaß des Staatsversagens. Das dokumentarische Hörspiel sei „erhellend“ und handwerklich herausstechend, so Stimmen aus der Jury. „Hochpolitisch, hochwichtig“, lautete eine andere.

Die Kommentierung innerhalb des Stücks, die die Ebene der Darstellung und Interviews und Augenzeugenberichte mit dem Nachdenken über sie in Verbindung bringt, bezeichnete ein Juror als hervorragend. „Campo“ erhielt den Geisendörfer-Preis in der Kategorie Hörfunk, er ging an Laura Uribe und Friederike Wigger.

Erschütterndes Dokument

Die zweite Auszeichnung in der Kategorie Hörfunk ging an das Feature „Ihre Angst spielt hier keine Rolle“ (Deutschlandfunk/SWR/WDR). Es geht um Geschichten von Frauen zwischen Gewalttätern, Familiengerichten und Jugendämtern. Das Hörfunk-Dokuformat zeigt, wie der Sorgerechtanspruch von Vätern eingesetzt wird, um häusliche Gewalt weiter auszuüben. Die veränderte Rechtsprechung der Familiengerichte und die Jugendämter spielen dabei leider eine wichtige Rolle.

Das sorgfältig recherchierte Feature ist ein erschütterndes Dokument. Gesellschaftlich hochbrisant zeigt es, wie eine eigentlich gut gemeinte Veränderung im gemeinsamen Sorgerecht von den Tätern in ein brutales Druckmittel verwandelt wird. Manches Jury-Mitglied konnte „kaum glauben“, was es da gehört hatte. Die Geschichten der betroffenen Frauen sind herausragend belegt.

Geteiltes Sorgerecht der Eltern ist eine gesellschaftliche Errungenschaft, öffentlich wird das positiv wahrgenommen. „Ihre Angst spielt hier keine Rolle“ aber zeigt, wie Unrecht und die Erleichterung, ja, Ermöglichung von Gewalt durch den Partner die direkte Folge sein können. Ein blinder Fleck des gesellschaftlichen Zusammenlebens, bisher kaum zur Sprache gebracht. Mit großer Überzeugung vergab die Jury den Geisendörfer-Preis an diese Produktion, er ging an Autorin Marie von Kuck und Regisseurin Beatrix Ackers.

In der Kategorie Fernsehen begegneten wir „Wen dürfen wir essen?“ (Radio Bremen) noch einmal. Auch als halbstündige Fernsehreportagen funktionieren die vielperspektivischen Recherchen zu Gründen, Praxis und Ausblick des Fleischkonsums gut, das Format kam aber nicht in die engere Wahl.

Die HR-Dokumentation „Sonny“ (Untertitel: „Eine Geschichte über den Holocaust, Eintracht und Frankfurt), die die bemerkenswerte Lebensgeschichte eines jüdischen Fußballfans und Frankfurter Originals erzählt, erschien in der Diskussion nicht zwingend für einen Preis geeignet. Eine interessante Geschichte, ein “toller Typ", aber eine störende Musikuntermalung, so der Tenor der Besprechung.

„Stärker als der Tod“ (WDR), eine posthum erzählte fünfteilige Doku-Serie von Renate Werner über das Sterben und den Krebstod eines Ehemanns und Vaters, sein Vermächtnis und das Weiterleben seiner Frau, erschien der Jury recht bedächtig erzählt. Auch die Form der Ich-Präsentation wirkte nicht durchweg überzeugend.

Überzeugendes Dokudrama

Bei „Spuren und Wunden der NSU-Morde“ (ZDF/Arte) von Aysun Bademsoy gab es Fürsprecher in der Jury-Debatte. Eine gute Reportage über die Hintergründe des Staatsversagens, so die Einschätzung. Manchen fehlte mehr Gegenrecherche. Andere sagten, noch mehr Konzentration auf die Angehörigen wäre wirkungsvoller gewesen.

Die Dokumentation „Unrecht und Widerstand - Romani Rose und die Bürgerrechtsbewegung“ (3sat/ZDF) ist sehr zu Recht bereits viel gelobt und bepreist worden, so die Meinung der Jurymitglieder. Ein sehr spannendes Thema, ein „toller Film, eine tolle Dokumentation“ von Peter Nestler. Die Jury entschied sich aber gegen die weitere Berücksichtigung.

Bei „Ramstein - Das durchstoßene Herz“ (SWR), einem der wenigen weitergereichten Fernsehfilme, lag die Sache anders. Die fiktive Aufarbeitung der Flugschaukatastrophe und ihrer Folgen wurde als „beeindruckend“, und „sehr stark“ gewürdigt. Genau genommen ist „Ramstein“ ein Dokudrama, in dem beides überzeugt, die Spielszenen (Kamera: Holly Fink) wie der dokumentarische Anteil.

Die Posttraumatische Belastungsstörung (PTBS) ist erst nach Ramstein in den klinischen Katalog aufgenommen worden. Die Notwendigkeit von Notfallseelsorge und Nachsorge sind dem Buch von Holger Karsten Schmidt und der Inszenierung von Kai Wessel wesentlich mit eingeschrieben und deutlich gemacht. Der Film sei dabei keineswegs überemotional, so die Wahrnehmung der Jury. Am Ende der Diskussion um die Fernsehpreise hatten wir jedoch drei Kandidaten für zwei Preise - und „Ramstein“ hatte leider das Nachsehen.

„Reine Kopfsache mit Nora Tschirner“ (Vox Television GmbH) werteten viele Jurymitglieder als sehr gelungene Produktion. Der Bezug zum Geisendörfer-Preis war augenfällig. Beglaubigt durch die Schauspielerin geht es um den Umgang mit Ängsten und Angstbewältigung. Wir behielten das Stück erst einmal auf unserer kleiner werdenden Liste.

„Sterbehilfe: Harald Mayer kämpft um seinen Tod“ (NDR) wurde dagegen nicht in die engere Wahl genommen. Die ARD-Story, ein wichtiges Stück, ragte nach Meinung der Jury zu wenig aus bereits gesehenen ähnlichen Reportagen heraus.

Eiskalte Nüchternheit

„Die Straße des Todes - Kriegsverbrechen in der Ukraine“ (ZDF) von Arndt Ginzel beschäftigte uns in der Debatte länger. Die Dokumentation, die mit Drohnenaufnahmen Kriegsverbrechen der russischen Armee drei Wochen nach Beginn des Angriffs dokumentiert, überzeugte uns durch ihre Rechercheleistung.

Der Geisendörfer-Preis in der Kategorie Fernsehen ging jedoch am Ende an zwei andere Produktionen. Zum einen an den Fernsehfilm „Kalt“ (ARD/WDR) mit Franziska Hartmann als Erzieherin, in deren Obhut bei einem Ausflug zwei Kinder auf tragische Weise zu Schaden kommen und sterben. Der Film überzeugte durch die eiskalte Nüchternheit und Schonungslosigkeit des beobachtenden Blicks. Autor Hans-Ulrich Krause und Regisseur Stephan Lacant sowie die außerordentliche Kamera von Michael Kotschi setzen gerade nicht auf Emotionalisierung, sondern lassen die Folgen, Fragen nach der Schuld, dem Verzeihen und dem Sich-selbst verzeihen-können sachlich und ungefiltert zur Darstellung kommen.

Das Thema „Und vergib uns unsere Schuld“, vor allem aber auch die Darstellung von Franziska Hartmann, deren Figur keine Vergebung findet, überzeugten die Jury zutiefst. Der Versuch, den Fall zu verrechtlichen, misslingt. Dieser Film geht unter die Haut, befand die Jury. Und er wirft Fragen auf: Wie entlohnen wir soziale Arbeit und mit welchen Risiken ist sie behaftet? Wie gehen wir als Individuen und als Gesellschaft mit Verantwortung um, besonders im Hinblick auf unsere Verwundbarsten? Die existentielle Schuld- und Vergebensfrage wird hier exzellent buchstabiert. Für „Kalt“ erhielten Franziska Hartmann, Stephan Lacant und Hans Ulrich Krause den Geisendörfer-Preis.

Der zweite Preis ging an eine Produktion, die von der Jury nachnominiert wurde. Bei kaum einer Produktion dieses Jahres haben wir so angeregt debattiert, um uns schließlich mit enormer Zustimmung für die Auszeichnung zu entscheiden. Die Rede ist von „Zum Schwarzwälder Hirsch - Eine außergewöhnliche Küchencrew und Tim Mälzer“ (Vox).

„Wir wollen arbeiten“, und zwar auf dem ersten Arbeitsmarkt, das sagen die 13 besonderen Menschen, die die Protagonisten dieses Social-Factuals sind. Sie, ihre Eltern, der Mentor André Dietz, Tim Mälzer und der Inklusions-Ausbildungsbetrieb Hofgut Himmelreich im Schwarzwald machen es möglich - und nehmen die Zuschauer mit auf eine vielstimmige, anschauliche, spannende und unterhaltende Reise. 13 motivierte Menschen mit Downsyndrom - im Behördendeutsch „nicht ausbildungsfähig“ -, wollen lernen, in der Gastronomie zu arbeiten. Einige in der Küche, andere im Service.

Beeindruckt und überzeugt haben die Jury die Genauigkeit, die Offenheit, auch der selbstkritische Respekt des Formats und das Vertrauen, die dieses Ausbildungsexperiment begleiten. Ein Lehrstück über den Aushandlungsprozess der Inklusion, über Würde. Hervorragendes Fernsehen. Der Preis ging an den Schauspieler und Mentor André Dietz, Tobias Wolfram für die Küchencrew, den Regisseur und Produzenten Sascha Gröhl und den Fernsehkoch Tim Mälzer.

Aus epd medien 41/23 vom 13. Oktober 2023

Heike Hupertz