Besonders der investigative Journalismus muss sich immer stärker gegen juristischen Druck behaupten. Die Formen, wie Einfluss auf recherchierende Journalisten genommen wird, sind vielfältig. Ob es die berüchtigten „presserechtlichen Informationsschreiben“ sind, ob nach Veröffentlichungen zu bestimmten Themen regelrechte Abmahnwellen gestartet werden oder ob horrende Kosten für Anwaltstätigkeiten oder für einen vermeintlich entstandenen Schaden eingefordert werden - die Auseinandersetzungen kosten in jedem Fall viel Zeit und in bestimmten Fällen auch viel Geld. Nicht jede Medienorganisation kann sich das leisten. Der Journalist Herbert Hoven, seit mehr als 40 Jahren freier Autor in Köln, hat bei Journalistinnen, Dokumentarfilmern, Verbänden und Medienwissenschaftlerinnen nachgehört, wie das Thema aktuell in der Branche diskutiert wird.
epd Am 4. Oktober dieses Jahres standen Luisa Izuzquiza, Leiterin des Brüsseler Büros von „FragDenStaat“, und Arne Semsrott, Projektleiter des Transparenzportals aus Berlin, vor der verschlossenen Tür des Hauses Nr. 18 in der Avenue d’Auderghem in der belgischen Hauptstadt. Dort hat Frontex, die Europäische Agentur für Grenz- und Küstenwache, ihr Brüsseler Verbindungsbüro. Im Aktenkoffer der Aktivisten befanden sich, gestückelt in kleinen Scheinen, exakt 10.520,76 Euro, die für die europäischen Grenzschützer bestimmt waren.
2018 hatte „FragDenStaat“ die europäischen Grenzschützer auf Auskunft über deren Einsätze im Mittelmeer verklagt. Frontex weigerte sich beharrlich, über die Operation „Triton“ (Einsätze gegen Flüchtlingsboote im Mittelmeer) Auskunft zu geben, und bekam recht. Nun verklagte Frontex seinerseits „FragDenStaat“ auf Erstattung der in dem Verfahren entstandenen Anwaltskosten von über 23.000 Euro. Die Summe hielt das Gericht der Europäischen Union (EuG) in Luxemburg für deutlich überzogen, verurteilte die NGO aber zur Zahlung von 10.520,76 Euro, jener Summe, die Izuzquiza und Semsrott persönlich aushändigen wollten. Denn für „FragDenStaat“ kam der übliche Weg einer Banküberweisung nicht infrage. Das sei, sagte Arne Semsrott etwas süffisant, „zu unpersönlich und intransparent“. Wenn Frontex Aktivisten einschüchtern wolle, „sollten sie uns zumindest in die Augen schauen“.
Vor der Einschüchterung einer NGO hatte das Europäische Parlament Frontex gewarnt. Drohungen gegen solche Organisationen und langwierige Rechtsstreitigkeiten erzeugten in der Öffentlichkeit ein negatives Image, was letztendlich auf Frontex selbst, aber auch auf die Europäische Union, in deren Auftrag die Grenzschützer tätig sind, zurückfalle, mahnte das Parlament.
„Schlag in die Magengrube“
Anna Hunger war nicht überrascht, als im Frühsommer 2018 die Redaktion der Wochenzeitung „Kontext“ Post von der Kölner Anwaltskanzlei Höcker bekam. Mit Post hatten die Stuttgarter gerechnet, aber nicht mit der „Größe und Prominenz der Kanzlei“. Für Hunger, die Autorin des Beitrags „‘Sieg Heil' mit Smiley“, war das ein „Schlag in die Magengrube“. Am 9. Mai 2018 hatte „Kontext“ Chatprotokolle von Marcel Grauf veröffentlicht, zu dieser Zeit Mitarbeiter der AfD-Abgeordneten im baden-württembergischen Landtag Christina Baum (seit September 2021 Mitglied des Deutschen Bundestags) und Heiner Merz (Fraktionsvorsitzender der AfD und im Juli 2020 aus der Partei ausgetreten).
„Nigger, Sandneger. Ich hasse sie alle“, zitierte Hunger aus den Protokollen. Und auch: dass „Muslime generell eher zu untermenschlichem Verhalten neigen“, liege in deren „Rasse“. 2015, als Zehntausende Menschen aus Syrien flüchten und auf eine menschenwürdige Zukunft in Europa hoffen, schrieb Grauf demnach: „Ich bin so voller Hass. Ich würde niemanden verurteilen, der ein bewohntes Asylantenheim anzündet.“ Hungers Resümee fiel deutlich aus: „Er ist ein strammer Faschist“, der „ein nationalstaatliches Europa der starken Führer vor Augen hat.“ Etwa 17.000 Facebook-Chats hatte Hunger zusammengetragen, ausgewertet und dann auszugsweise zitiert.
Den Antrag auf eine einstweilige Verfügung gegen „Kontext“ begründete die Kanzlei Höcker damit, dass ihr Mandant Marcel Grauf seinen Account schon Ende 2017 gelöscht habe. Außerdem seien dessen Chats von Dritten manipuliert worden, von wem, wisse man nicht. Die Veröffentlichung der Chatprotokolle aus den Jahren 2013 bis 2017 verstießen gegen das Persönlichkeitsrecht Graufs. Der Artikel dürfe nicht weiter verbreitet werden.
Ständige Terminverschiebungen
Der erste Prozess im Eilverfahren auf Erlass einer einstweiligen Verfügung fand im August 2018 vor dem Landgericht Mannheim statt. Dem Antrag der Kanzlei Höcker wurde stattgegeben. Im März 2019 hob das Oberlandesgericht Karlsruhe das Urteil auf. „‘Sieg Heil' mit Smiley“ und ein weiterer Artikel Anna Hungers gleichen Inhalts („Nazis in der zweiten Reihe“ vom 27. November 2019) dürfen bis zur Klärung im Hauptsacheverfahren vor dem Landgericht Frankfurt vorerst weiter erscheinen und sind bis heute online nachzulesen. Nach mehrmaliger Verschiebung, wohl auch bedingt durch Corona, ist auch der für den 5. November dieses Jahres angesetzte Termin im Hauptsacheverfahren verschoben worden.
Seit nunmehr dreieinhalb Jahren schleppen die Redaktion und vor allem Anna Hunger dieses Verfahren mit sich herum. Wochenlang war die Journalistin ausschließlich mit der Prozessvorbereitung beschäftigt. Sie las die Schriftsätze der Gegenseite und verfasste eigene Stellungnahmen für ihren Anwalt. Oft waren das 30 bis 40 Seiten. „Das strengt einen sehr an“, sagte sie. „Es hockt einem im Genick.“ Und der Gedanke, gerade bei der Beschäftigung mit rechtsradikalen Parteien und Gruppierungen ständig unter Beobachtung zu stehen, befällt sie auch heute noch.
So ein Verfahren legt man nicht nach Büroschluss in die Ablage, sondern nimmt es mit nach Hause. In der Familie wird darüber gesprochen, Freunde fragen nach dem aktuellen Stand und wollen wissen, wie es Anna Hunger persönlich geht und wie es überhaupt weitergeht in dem Verfahren. Das alles in fürsorglicher Absicht, aber letztendlich führt es dazu, dass die Journalistin nicht zur Ruhe kommt. Oft habe sie im Zorn zum Telefon gegriffen und ihren Anwalt angerufen und sich „tierisch aufregen müssen“, erzählt sie.
Spendenaufruf von „Kontext“
Die Stuttgarter Kanzlei Oppenländer bezifferte das Kostenrisiko eines Rechtsstreits für die Redaktion und den Trägerverein von „Kontext“ auf 100.000 Euro. Eine riesige Summe für ein spendenfinanziertes Projekt - und für Hunger ein weiterer Tiefschlag: „Wenn wir verlieren“, so ihre Sorge, gehe vielleicht die ganze Zeitung „den Bach runter, und ich bin möglicherweise schuld daran.“ „Kontext“ hat das frühzeitig kommuniziert und sich von Anfang dagegen gewehrt, ein „spendenfinanziertes Projekt totprozessieren“ zu lassen. Weil Prozesskosten und hohe Schadenersatzforderungen an die Existenz gehen, richtete die Zeitung ein Spendenkonto ein, auf dem innerhalb weniger Wochen mehr als 100.000 Euro eingegangen sind. Kleinstbeträge von fünf Euro sind gespendet worden, aber auch größere Summen von 3.000 Euro konnten verbucht werden. Was Susanne Stiefel, Redaktionsleiterin von „Kontext“, besonders freut, sind die 2.000 Euro, die die Tochter eines AfD-Landtagsabgeordneten (nicht aus Baden-Württemberg) gespendet hat.
Eingeschüchtert fühlen sich möglicherweise auch viele Journalistinnen und Journalisten sowie Historikerinnen und Historiker, die in den vergangenen Jahren über die Rechtmäßigkeit der Vermögensansprüche des Hauses Hohenzollern, des ehemaligen deutschen Kaiserhauses, gegenüber Bund und Ländern berichtet haben. Dabei geht es um Kunstwerke und Immobilien, die nach dem Zweiten Weltkrieg in der sowjetisch besetzten Zone enteignet wurden. Die Ansprüche der adeligen Familie, vertreten durch Georg Friedrich Prinz von Preußen, Urenkel des letzten deutschen Kaisers, werden strittig diskutiert. Mitglieder des Hauses Hohenzollern hätten sich „an das Naziregime angebiedert, haben es gepampert und gepriesen“, schrieb Heribert Prantl Ende September 2020 in der „Süddeutschen Zeitung“.
Zurückhaltender drückt sich Sophie Schönberger aus. Die Professorin für Öffentliches Recht, Kunst- und Kulturrecht an der Heinrich-Heine-Universität Düsseldorf verweist auf die Rechtslage, wonach ein Anspruch auf Entschädigung ausgeschlossen ist, wenn ein potenziell Berechtigter dem Nationalsozialismus „erheblichen Vorschub geleistet hat“. Denn darum geht es im Wesentlichen: um die Rolle des Hauses Hohenzollern während der Zeit des Nationalsozialismus. Selbst die versierte Juristin ist, wenn sie sich zum Haus Hohenzollern und dessen Rolle während des Dritten Reiches äußert, „in einer Weise vorsichtig geworden“, die sie zuvor bei sich nicht gekannt habe. Sie überlege vor jedem Satz genau, ob er möglicherweise juristisch angreifbar ist, betonte sie in ihrer „Laudatio“ auf das Haus Hohenzollern, dem die Journalistenvereinigung Netzwerk Recherche jüngst den Negativpreis „Verschlossene Auster“ zuerkannte (epd 40/21).
Doppelter Druck
Etwa 80 Verfahren gegen Journalistinnen und Journalisten, aber auch gegen Historiker und Historikerinnen haben Sophie Schönberger und Eva Schlotheuber, Vorsitzende des Verbandes der Historiker und Historikerinnen Deutschlands, bisher zusammengetragen. „Die Klagen der Hohenzollern - eine Dokumentation“ (www.klagen-der-hohenzollern.de) listet einstweilige Verfügungen, Abmahnungen oder Klagen im Hauptsacheverfahren auf. Dabei richten sich die anwaltlichen Schreiben des Hauses Hohenzollern sowohl an Medienhäuser mit eigenen Rechtsabteilungen als auch an einzelne Autorinnen und Autoren. Und es macht einen Unterschied, ob diese fest angestellt sind und sich auf die Rechtsabteilungen ihrer Häuser verlassen können, oder ob sie freiberuflich arbeiten. Auch wenn die Freiberufler Rechtsschutz von ihren Gewerkschaften bekommen oder sie sich im Einzelfall auf die Rechtsabteilungen ihrer Auftraggeber verlassen können, ist der psychologische Druck, den ein aggressiv formuliertes Kanzleischreiben auf sie ausüben kann, enorm.
Auch der wirtschaftliche Druck spielt eine große Rolle. Denn abgerechnet wird zum Schluss, wenn zuweilen darum gefeilscht wird, welche Kosten - Anwalts- und Prozesskosten, Entschädigungszahlungen - dann doch noch auf die freien Autorinnen und Autoren zukommen. Seit Herbst dieses Jahres ist Pascale Müller beim Netzwerk Recherche zuständig für „Freie und Arbeitsbedingungen“. Im Idealfall entsteht dort ein Diskussionsforum, das transparent macht, unter welchen Bedingungen gerade Freiberufler ihrer Arbeit nachgehen.
Gut dokumentiert sind die unterschiedlichen Positionen in der Untersuchung „Wenn Sie das schreiben, verklage ich Sie! - Studie zu präventiven Anwaltsstrategien gegenüber Medien“ (Otto Brenner Stiftung 2019) von Tobias Gostomzyk und Daniel Moßbrucker (epd 33, 35/19). „Die Schreiben gehen im Justitiariat ein, und wir kommen erst ins Spiel, wenn inhaltliche Punkte abzuklären sind. Ich muss das in aller Regel nicht beantworten, sondern allenfalls Hilfestellungen geben für unsere Juristen“, zitieren die Autoren Jürgen Dahlkamp, Redakteur des „Spiegels“. Dieser Tenor zieht sich durch die meisten Aussagen der fest angestellten Redakteure und Autoren in dieser Studie. Da kommt der Freiberufler ins Grübeln und denkt: Warum habe ich es konsequent abgelehnt, mich fest anstellen zu lassen? Und die Redakteurin einer aus Spenden finanzierten Zeitung denkt sich: Ja, eine Rechtsabteilung im Hause zu haben, wäre schon schön.
Transparenz und Abschreckung
Die Sammlung „Die Klagen der Hohenzollern - eine Dokumentation“ stellt Transparenz her und leuchtet einen Bereich aus, der für viele, vor allem jüngere Journalistinnen und Journalisten, häufig eine terra incognita ist. So ein Konvolut kann aber auch ein abschreckendes Beispiel sein, weil es dokumentiert, was alles auf jemanden zukommen kann und womit er rechnen muss, wenn er ein brisantes Thema recherchiert und darüber publiziert. Bei jeder Zeile, die man schreibt, an ein „anwaltliches Informationsschreiben“ zu denken, das einem ins Haus flattern kann, ist nicht gerade motivierend.
Im Juni 2020 richtete „FragDenStaat“ einen Rechtshilfefonds für betroffene Forscher und Journalistinnen ein, die vom Haus Hohenzollern wegen ihrer Berichterstattung abgemahnt wurden, den sogenannten Prinzenfonds (epd 26/20). Mit einem Spendenaufkommen von 50.000 Euro ausgestattet, seien bisher - so „FragDenStaat“ - einige Dutzend Wissenschaftlerinnen und Journalisten unterstützt worden.
Das Haus Hohenzollern betonte unterdessen, nicht prinzipiell gegen kritische Berichte angehen zu wollen. Das Vorgehen von Georg Friedrich Prinz von Preußen habe sich „zu keiner Zeit gegen eine Berichterstattung als solche“ gerichtet, sondern „gegen die Verbreitung von Falschinformationen innerhalb von einzelnen Berichterstattungen“, teilte das Haus dem Netzwerk Recherche mit. Die Einladung, die „Verschlossene Auster“ entgegenzunehmen, nahmen die Hohenzollern nach Angaben der Journalistenorganisation nicht an.
Gründliche Recherche ist teuer
„Wir lassen über alle unsere investigativen Dokumentationen einen Rechtsanwalt schauen“, sagt Thomas Weidenbach, Geschäftsführer der „Längengrad Filmproduktion“. Und das nicht erst, wenn der Film abgedreht und der Rohschnitt fertig ist, sondern schon im Vorfeld, „wo wir noch kein einziges Interview gedreht haben“. Abgesprochen werden die Recherche, welche Dokumente verwendet werden können und welches „beweisfähige Material“ auf jeden Fall besorgt werden muss. Als Produzent, Autor und Regisseur arbeitet Weidenbach seit über 30 Jahren hauptsächlich für öffentlich-rechtliche Sender und ist unter anderem mit dem Grimme-Preis und dem Bayerischen Fernsehpreis ausgezeichnet worden.
Neben Themen wie Globalisierung, Umwelt und Zeitgeschehen hat sich die Kölner Produktionsfirma zuletzt vor allem mit Dokumentationen über Missstände im Gesundheitswesen („Heilpraktiker. Quacksalber oder sanfte Alternative“ oder „Krankenhäuser schließen - Leben retten?“), einen Namen gemacht, sich damit aber auch einigen Ärger eingehandelt. Im Einzelfall muss zum Beispiel abgewogen werden, ob das Interview mit einem Arzt trotzdem gesendet wird, obwohl dieser durch seinen Anwalt mitteilen lässt, dass er das Gespräch nachträglich nicht freigibt.
Simon Roden, Rechtsanwalt aus Köln und beratend für verschiedene Filmfirmen tätig, macht folgende Rechnung auf: Etwa 10 bis 15 Arbeitsstunden fielen an, wenn ein Rechtsanwalt einen Dokumentarfilm vom Exposé bis zur redaktionellen Abnahme begleitet. Bei einem Stundensatz von 300 Euro („nach oben sind da keine Grenzen gesetzt“) kommt einiges zusammen. Es gibt nicht viele Produktionsfirmen in Deutschland, zumal wenn sie auf Reportagen und Dokumentationen spezialisiert sind, die sich solch gründliches Arbeiten leisten können. Für Längengrad-Geschäftsführer Weidenbach aber ist das der einzig gangbare Weg, weil die Fernsehsender von den Auftragsproduzenten immer häufiger verlangten, sie von „allen Haftungsfragen“ freizustellen - das Prozessrisiko trage er.
Dabei seien die Redaktionen der öffentlich-rechtlichen Sender nicht das Problem. Sie stünden in den meisten Fällen, so Weidenbachs Erfahrung, an der Seite der Produktionsfirmen. Was eigentlich nicht erstaunen sollte, denn die Sender sind es ja, die die freien Produzenten beauftragen. Wenn es aber hart auf hart komme und die Redakteure zwischen ihrem öffentlich-rechtlichen Arbeitgeber und den Produzenten hin und her gerissen seien, dann gebe es „keine eindeutige Regelung“, die die freien Filmemacher schütze.
Gescheitertes Projekt
Weidenbach, der in der Produzentenallianz (Allianz Deutscher Produzenten - Film & Fernsehen) dem Vorstand der Sektion Dokumentation angehört, findet es „richtig und nachvollziehbar“, dass fest angestellte Redakteure, die zuweilen selbst Reportagen realisieren, bei juristischen Auseinandersetzungen von ihren Sendern „geschützt“ werden. Um die juristischen Finessen kümmern sich dann die Rechtsabteilungen, die Redaktionen arbeiten diesen zu, indem sie inhaltliche Fragen konkretisieren. Die freien Produzenten genießen dieses Privileg nicht.
Um deren Stellung gegenüber den öffentlich-rechtlichen Sendern vor allem bei investigativen Recherchen zu stärken, haben im August 2017 RBB, MDR und NDR mit der Produzentenallianz eine Selbstverpflichtungserklärung unterzeichnet. Darin heißt es: „Bei Dokumentationen im investigativen Bereich (...) ist eine gestiegene Bereitschaft zu verzeichnen, investigativen Produktionen mit juristischen Mitteln entgegenzuwirken. Dies birgt die Gefahr, dass künftig immer weniger Produzenten bereit sein könnten, investigative Projekte zu verwirklichen. Es ist das gemeinsame Ziel, die Herstellung einer Produktion im Zweifel nicht an den Risiken investigativer Berichterstattung scheitern zu lassen.“
Das ist jetzt vier Jahre her. Und bis heute hat nach Angaben der Produzentenallianz kein weiterer Sender die Selbstverpflichtungserklärung gegengezeichnet. Thomas Weidenbach erinnert sich noch sehr genau an ein gescheitertes Projekt mit dem ZDF über die Identitäre Bewegung: Das ZDF habe verlangt, dass die Längengrad Filmproduktion den Sender von jeglicher Haftung freistellt. Allein das Risiko zu tragen, Dokumente aus der Website der rechten Bewegung zu übernehmen und zu senden, war Weidenbach zu groß, vor allem weil man weiß, wie klagefreudig gerade die rechte Szene in Deutschland ist. „Deshalb haben wir uns entschlossen, den bereits vorliegenden Filmvertrag nicht zu unterzeichnen.“
„Presserechtliche Informationsschreiben“, anwaltliche Schreiben an Redaktionen, Produzentinnen, Filmemacher oder Journalistinnen, in denen im Vorfeld einer Veröffentlichung auf mögliche Rechtsverstöße hingewiesen und die - in voller Absicht des Absenders - vom Empfänger oft als Drohung wahrgenommen werden, schüchtern Weidenbach hingegen nicht ein. Dazu ist er zu lange im Geschäft. „Aber ich überlege dreimal genauer als früher, was oder wie ich berichte“, räumt er ein. Das heißt natürlich auch, dass er nicht mehr so forsch an Themen herangeht wie in früheren Jahren. Genau davor warnt auch Rechtsanwalt Roden. Immer wieder müsse er Autorenfilmer bremsen, die allzu zielstrebig und „ohne nach rechts und links zu schauen“ ihrem Thema nachjagen. „Sie machen das aus vollem Engagement“, seien sich aber über die möglichen Konsequenzen manchmal nicht im Klaren.
Fragen ohne Antworten
Recherchiert man zum Thema „Einschüchterung von Journalisten“, stößt man häufig auf Schweigen. Anfragen an Berufsverbände („Danke für die Nachricht, ich habe Ihre Anfrage an den Vorstand weitergeleitet“), Recherchepools, Hochschullehrer, Blogs, Stadtmagazine und Institute erweisen sich als unergiebig. Nach „sorgfältiger Abwägung“, schreibt ein Kollege, habe er sich gegen ein Interview entschieden, weil er in der Öffentlichkeit nicht mit dem „Thema identifiziert“ werden möchte.
Überraschend ist das nicht. Anne Haeming bilanzierte im Juli 2020 im Online-Magazin „Übermedien“, von 16 kontaktierten Journalisten und drei Wissenschaftlerinnen, die über die Rechtmäßigkeit der Vermögensansprüche des Hauses Hohenzollern berichtet haben, seien nur sechs von „Anwaltspost verschont“ geblieben. Einige hätten eine Unterlassungserklärung unterschrieben, andere Fälle landeten demnach vor Gericht, und wieder andere reagierten auf wiederholte Anfrage Haemings gar nicht.
Kritik an der Medienwissenschaft
Angesichts der sich häufenden Einschüchterungen gegen Journalistinnen und Journalisten müsste es eigentlich „mehr Aufschreie geben“, sagt Tanjev Schultz, Professor für Journalismus an der Universität Mainz. Aber vielleicht wollten Journalisten auch „nicht alles ausbreiten, was ihnen da widerfährt“, was bei ihnen „anlandet an seltsamen E-Mails und Faxen von Anwälten“. Und er betont, dass die Medienwissenschaft sich nicht energisch genug „um diese vermeintlichen kleinen Sachen kümmert, sondern um die ganz großen Skandale“. Um die großen Hausnummern à la „Spiegel“-Affäre.
Nach vier Jahren hat Anfang dieses Jahres das Oberlandesgericht Nürnberg Schadensersatzansprüche eines Solarunternehmers gegen die „Süddeutsche Zeitung“ (SZ) und zwei ihrer Redakteure endgültig verworfen. Es ging um die enorme Summe von 78 Millionen Euro, die „jeden Verlag in die Knie zwingen und kritische Wirtschaftsberichterstattung in Deutschland unmöglich“ gemacht hätte, wie Annette Ramelsberger im Februar in der SZ schrieb. Der Wissenschaftler Schultz verweist darauf, dass es in der Realität eher die „kleinen Sticheleien“ seien, mit denen man die Berichterstattung „eingrenzen und beschränken“ könne - mit der Konsequenz, dass Einschüchterungsversuche „letzten Endes auch das Fundament unserer Medienordnung“ beträfen.
Aus epd medien 48/21 vom 3. Dezember 2021