Die Welterklärerinnen
Wissende Frauen in Talkshows

epd Noch vor zwei Jahren schrieb der „Spiegel“, in der Corona-Krise kämen vor allem männliche Experten in den Fernsehtalkshows zu Wort. Nur ein Drittel der Talkshowgäste war nach einer Analyse des Nachrichtenmagazins weiblich. Und während die Männer in diesen Sendungen meist die Rolle der Experten übernähmen, kämen Frauen vor allem als Betroffene zu Wort. Das ist im Ukraine-Krieg ganz anders, hat die Publizistin Barbara Sichtermann beobachtet. Sie sah in den vergangenen Wochen viele Sicherheitsexpertinnen und Militärstrateginnen in Talkshows sitzen und fand deren Auftreten souverän und überzeugend.

epd Der Krieg Russlands in der Ukraine hat dazu geführt, dass in den Medien große Worte laut werden. Manche sprechen von einer „endgültigen Zäsur“, von einer „Zeitenwende“, gar von einem „Zivilisationsbruch“. Während der Wochen, die auf den 24. Februar, den ersten Kriegstag, folgten, konnten die Talkshows im öffentlich-rechtlichen Fernsehen sich keinem anderen Thema zuwenden als diesem Krieg, dazu war es einfach zu dringlich. Sogar Corona rutschte auf der Agenda erst mal nach hinten.

Die Moderatorinnen und Moderatoren der Talkshows fächerten das Thema auf und setzten täglich neue Schwerpunkte. Vom militärischen Geschehen, also dem russischen Angriff und dem Widerstand der ukrainischen Armee und der Zivilisten im überfallenen Land ging es zu den Strategien des Westens und darum, wie dem Aggressor am besten in den Arm zu fallen sei. Es ging um Wirtschaftssanktionen, die der russischen Versorgung im Inland und bei den Truppen, den Oligarchen und Präsident Putins Kriegskasse Schaden zufügen sollten. Es ging um die Frage, ob es seitens der Europäischen Union zu verantworten sei, Gaslieferungsverträge mit Russland zu kündigen, denn die Abhängigkeit besonders Deutschlands von russischem Gas war und ist beträchtlich.

Zerbombte Städte

Und dann war da, besonders brennend, die Frage von Waffenlieferungen. Es ging ferner um Hunderttausende von Flüchtlingen, die jetzt wieder auf westlichen Bahnhöfen ankommen, etwa in Berlin, mit leichtem Gepäck und Kindern an der Hand, von schweren, schrecklichen Erinnerungen an zerbombte Städte bedrückt. Es ging um Krieg mit all seinen Auswirkungen: militärischen, wirtschaftlichen, sozialen. Und die Talkrunden mussten gefüllt werden, es mussten Leute her, die etwas von der Sache verstanden und sich in die Zusammenhänge eingearbeitet hatten.

Und da saßen, oh Wunder, bei Markus Lanz und Maybrit Illner, bei Frank Plasberg, Sandra Maischberger und Anne Will plötzlich lauter Frauen, manchmal sogar in der Überzahl. Nein, diese Frauen waren nicht nur für die Diskussion von Problemen rund um die Unterbringung von Flüchtlingen oder andere eher humanitäre Fragen eingeladen worden, sondern für die ganz harten Debatten über militärische Einschätzungen, über Strategie und Taktik, über Waffenlieferungen und „Waffensysteme“, über ökonomische Abhängigkeiten und Verflechtungen, über Eskalation, Diplomatie, Welthandel, Lieferketten und Inflation. Es waren Expertinnen, die da saßen, keine weiblichen Menschen mit Meinung, die die Runde aufhübschen sollten.

Man traute seinen Augen kaum: Da räsoniert eine Europa-Expertin über „die Unwilligkeit der Politik, den worst case zu denken“ und die Leiterin einer Forschungsgruppe Sicherheitspolitik bei der Stiftung Wissenschaft und Politik erklärt, warum es ein großer Unterschied ist, ob der Westen „Panzerfäuste oder Kampfflugzeuge in die Ukraine“ liefert. Eine Ökonomin definiert den Begriff der „Neutralität“: was bedeutet er heute, in Bezug auf die Stellung der Ukraine in den weltweiten Beziehungen?

Lauter wohlinstruierte, wissende Frauen sitzen da auf den Fauteuils oder stehen an Pulten und erläutern klar und pointiert, wie die Weltlage derzeit aussieht. Frauen, die bewandert sind in internationaler Politik und Militärwesen, obwohl diese Gebiete doch auch heute noch als Männerdomänen ausgewiesen werden.

Woher kamen auf einmal so viele weibliche Experten in so harten Fragen wie „Sicherheitsarchitektur“, Kriegsführung, Waffentechnik. Beziehungsweise: Wo hatten die sich so lange versteckt?

Vor 20 Jahren war es längst so weit, dass die Unterrepräsentanz von Frauen in Talkshows zu politischen Themen unangenehm auffiel. Fragte man bei den Redaktionen nach, hieß die Antwort stets: Wir bemühen uns ja um Frauen. Wir wollen selbst gern mehr Frauen in die Sendung holen. Aber wir finden keine. Und wenn wir dann doch mal auf den Namen einer Expertin in Sachen Außenpolitik oder Kriegshistorie stoßen und sie anfragen, dann sagt sie: Nein, sie gehe nicht in Talkshows. Also liege der Missstand nicht etwa an einem Unwillen der Redaktionen, Frauen einzuladen. Er liege an einem Unwillen der Frauen, in die Shows zu gehen oder sich auf Militärhistorie zu spezialisieren.

Der Faktor Zeit

Dieselbe Argumentation hörte man damals in Bezug auf die Präsenz von Frauen in Führungsetagen der Wirtschaft oder in herausgehobenen Positionen bei politischen Parteien. Frauen würden öfter mal Nein sagen, wenn sie gerufen würden, die eine oder andere Stafette zu übernehmen, weil ihnen die Hahnenkämpfe der Männer um Einfluss und Posten zuwider seien und sie keine Lust hätten, sich ihre Lebensfreude mit dieser Art Hickhack vergällen zu lassen.

So kam es schließlich in dem einen oder anderen Bereich zur Frauenquote, beziehungsweise erst mal zur Diskussion um sie. Hier und da wurde sie eingeführt. Aber noch ein anderer Faktor trug dazu bei, dass sich die Dinge allmählich wandelten: der Faktor Zeit.

Es ist so, dass sich die Dinge, gemeint ist hier die Gleichstellung der Frauen, nur allmählich wandeln. Einstmals hieß es, wenn in einem Betrieb, einer Organisation, einer Institution etwa 40 Prozent Frauen auf einer bestimmten Ebene agierten (manche meinten, 30 Prozent genügten schon), dann sei ein Kipppunkt erreicht, man brauche dann keine Quote mehr, Frauen würden sich von selbst aufgefordert fühlen, mathematische oder naturwissenschaftliche Fächer zu studieren, einen Vorstandsposten zu beanspruchen oder sich in einer Partei noch oben zu boxen, weil jetzt das Klima in den jeweiligen Milieus sie nicht mehr abstoße.

Und dieser Kipppunkt wurde ganz offensichtlich - und in Bezug auf Offensichtlichkeit ist eine Talkshow ein guter Test - in weiten Teilen der deutschen TV-Öffentlichkeit erreicht! Wenn heute eine Talkshow-Redaktion eine Frau braucht, die sich auf dem Bildschirm zu präsentieren weiß und Russland-Expertin ist, dann findet sie auch eine. Und wenn die dann angerufen und eingeladen wird, sagt sie Ja. Das ist ein großartiger Fortschritt in Sachen Gleichberechtigung.

Einige überzeugende Frauen im derzeitigen Talk kennt man schon von früher oder aus dem Wahlkampf vom letzten Jahr, so Marie-Agnes Strack-Zimmermann von der FDP, inzwischen Vorsitzende des Verteidigungsausschusses im Bundestag. Diese resolute ältere Dame sagt immer nur, was sie weiß und für richtig hält und das auch noch gerade heraus und klar.

Auch Luisa Neubauer, die junge Fridays-for-Future-Frau, deren Faktenwissen ihren Kontrahenten von der Industrie einst ordentlich Angst eingejagt hat, als es noch vor allem um das Klima und dessen Rettung ging, hat ihre wissensbasierte Bestimmtheit nicht verloren. Sie sitzt jetzt beim Talk, um dafür zu sorgen, dass über den großen Aufreger Krieg die ja eigentlich noch viel größere Bedrohung der Klimaerwärmung nicht in Vergessenheit gerät, und sie schafft das irgendwie schon durch ihre pure Präsenz.

Constanze Stelzenmüller ist ebenfalls eine bekannte Größe. Die Juristin und Publizistin lebt und forscht in Washington als Expertin für transatlantische Beziehungen und Sicherheitspolitik der Denkfabrik Brookings Institution, sie ist zu Besuch in Deutschland und gibt bei Maybrit Illner zu Protokoll: „die Drohung mit der Anwendung von Atomwaffen ist ein Zivilisationsbruch. Putin hat damit eine Nachkriegsnorm gebrochen.“ Sie spricht dann von Nordkorea und erklärt, dass die jüngsten Atomtests des Landes nicht zufällig just in dieser Zeit stattfinden. Ja, die Welterklärung, genauer: Die Weltgefahrenerklärung - sie stammt neuerdings von Frauen, und das wirkt völlig selbstverständlich.

Die Angst vor der Waffe

Doch jetzt zu den „neuen“ Frauen, um die es hier vordringlich gehen soll und die so unverhofft, wenn auch nicht unerhofft, überall auf den Mattscheiben glänzen. Sie sind eher jung, aber genauso souverän, klug, kenntnisreich und sachlich wie die älteren Häsinnen. Eine zum Beispiel ist Dr. Sabine Fischer, sie forscht bei der Stiftung Wissenschaft und Politik über russische Außen- und Sicherheitspolitik. Sie erklärt bei Lanz: „Die deutsche Politik sitzt Fehleinschätzungen auf.“

Eine andere ist Professorin Daniela Schwarzer, Politologin, Europa-Expertin und Executive Director bei der Open Society Foundations. Sie sagt (auch bei Lanz), man müsse genau „hinsehen in das grauenhafte Gesicht des Krieges.“ Die Ökonomin Dr. Karen Pittel ist Professorin an der Ludwig-Maximilians-Universität in München, sie kann (bei Lanz) sehr gut erläutern, was ein ökonomisches Modell ist und was man damit machen kann und was nicht.

Florence Gaub ist stellvertretende Direktorin des Europäischen Instituts für Sicherheitsstudien in Paris. Sie legt (bei Illner und Lanz) den Unterschied zwischen Strategie und Taktik dar, erklärt, was eine „Bestrafungsstrategie“ (z.B. Terror gegen die Zivilbevölkerung) ist und warnt davor, auf Putins Kriegspropaganda reinzufallen, insofern, dass wir nun alle eine Höllenangst kriegen und aus dieser Angst heraus handeln. Es werde keinen dritten Weltkrieg geben. „Die Angst vor der Waffe ist die Waffe.“

Die Politologin und Slawistin Gwendolyn Sasse, wissenschaftliche Direktorin des Zentrums für Osteuropa- und Internationale Studien in Berlin sowie Professorin für Vergleichende Politikwissenschaften an der Universität Oxford, definiert den Begriff „Neutralität“ für die Ukraine und sie muss noch was loswerden: Es gefalle ihr gar nicht, wie abschätzig in dieser Krise oft von der Wissenschaft gesprochen wird.

Nüchtern und ernst

Bei „Hart aber fair“ nimmt Dr. Margarete Klein, Expertin für die Militärpolitik Russlands, teil. Sie führt aus, dass Russland beziehungsweise Putin einen „Sequenzkrieg“ führe, das heißt so etwas Ähnliches wie einen Schritt vorwärts und zwei zurück und dann wieder einen vorwärts, und dass wir die „Kalibrierung von Zeit und Zielen“ hinkriegen müssten. „Die Russen hoffen, dass wir zusammenbrechen.“

Dann haben wir da noch Dr. Claudia Major, sie ist Leiterin der Forschungsgruppe Sicherheitspolitik bei der Stiftung Wissenschaft und Politik, und sie kann (nicht nur bei Lanz) dem Publikum auseinandersetzen, wie die verschiedenen Waffensysteme wirken und was es mit Defensive und Offensive auf sich hat. Sie widerlegt in wenigen wohlgesetzten Worten die Propaganda Putins, derzufolge die Nato Russland räumlich bedränge. „Wir sehen, dass Russland näher an den Westen herangerückt ist. Es steht in Belarus, es steht in der Ukraine es führt einen Krieg in der Ukraine, und man sieht einen klaren Eskalationswillen.“

Bei Markus Lanz am 15. März waren mit Daniela Schwarzer, Sabine Fischer und der ZDF-Journalistin Katrin Eigendorf die Frauen gegenüber dem Ökonomen Marcel Fratzscher und dem zugeschalteten bayerischen Ministerpräsidenten Markus Söder klar in der Überzahl. Und das bei einem Thema, in dem es um Weltpolitik auf den höchsten Ebenen von Diplomatie, von Welthandel und Boykott, von kriegerischen Auseinandersetzungen, Waffenlieferungen und Fluchtbewegungen ging. Die Reporterin Katrin Eigendorf ist derzeit häufig als Berichterstatterin aus belagerten und zerstörten Städten in der Ukraine zu sehen, sie macht ihren Job hervorragend und spricht nüchtern, ernst und deshalb eindringlich von dem, was sie in dem bekämpften und kämpfenden Land um sich herum wahrnimmt.

Es ist nicht nur erstaunlich, dass so viele auskunftsbereite und -fähige Frauen in den Talkrunden sitzen, es ist nicht nur erfreulich, dass sie so viel Kluges sagen, sondern es ist auch bemerkenswert, wie sie vor der Kamera reden und agieren. Dass Hahnenkämpfe Zeitverschwendung und Hickhacks langweilig sind, wussten wir schon lange, aber wir haben es geschlechterpsychologisch immer wieder entschuldigt und manchmal sogar den Frauen angeraten, selbst ein wenig aggressiver aufzutreten.

Jetzt sieht man, dass die jungen Expertinnen mit ihrer nüchternen Souveränität nicht nur punkten, sondern wahrscheinlich in der Television eine neue Ära der Sachlichkeit einläuten. In der erwähnten Lanz-Sendung am 15. März war Söder zugeschaltet. Die Art, wie dieser Mann sofort ablenkt, wenn es für ihn irgendwie brenzlig wird, stand in schlagendem Kontrast zu der Sachbezogenheit der Frauen - man dachte unwillkürlich: Junge, deine Zeit ist vorbei. Es ging um die Nähe der CSU zu Russland und Putin, und Söder wand sich. Es wurden Bilder von Seehofer mit Putin eingeblendet, und die Kamera hielt auf das Gesicht der still lächelnden Daniela Schwarzer, während Söder zappelte. „Ich selber war eher zurückhaltend“, behauptete er. Und dann kam er natürlich auf Gerhard Schröder zu sprechen. Er ist wahrlich ein König des Whataboutisms.

Der Punkt ist: Die Frauen haben verstanden, was Sache ist und reden zur Sache. Alte Knaben wie Söder denken immer, die Sache seien sie selber. Das ist ein Irrtum, meine Herren. Dass der mit einem Mal publik wird, ist ein weiteres Verdienst der neuen Expertinnen, die jetzt überall aus der Deckung vor die Kameras treten.

Keine Zeit für Eitelkeiten

In diesem Artikel sind einige berufliche Profile der genannten Damen in aller nervtötenden Ausführlichkeit zitiert worden. Das war Absicht. Männer sind es gewohnt, dass alle ihre Titel und beruflichen Verbindungen immer und überall genannt werden, sie arbeiten damit, und wenn niemand sonst ihre Verdienste erwähnt, tun sie es selbst. Frauen scheinen all das nicht nötig zu haben.

Die kenntnisreichen Frauen, die in diesen Wochen zur Aufklärung über den Krieg in der Ukraine beitragen, tun dies in einer gewissen Bescheidenheit. Aber da der Kipppunkt erreicht scheint, da es ihrer so viele sind, tut das der Aufmerksamkeit, die sie erregen, keinen Abbruch. Sie müssen nicht durch ihren Rang beeindrucken, sie tun es durch Inhalte. Es ist erleichternd, das zu sehen, und es könnte dazu beitragen, dass die Eitelkeit, die sich Leute, die in Talkshows sitzen, wechselseitig großzügig zugestehen, jetzt doch eine immer geringere Rolle spielt, wenn jemand im TV-Talk das Wort ergreift. Die Zeiten sind sowieso nicht danach.

Aus epd medien 16/22 vom 22. April 2022

Barbara Sichtermann