Bevor Wolodymyr Selenskyj im April 2019 zum Präsidenten der Ukraine gewählt wurde, hatte er diese Rolle bereits im Fernsehen gespielt: In der satirischen Serie „Diener des Volkes“ verkörperte er den fiktiven Staatspräsidenten Wassilyj Holoborodko (epd 34/19). Seine Medienerfahrung kommt Selenskyj derzeit zugute, wenn er Videobotschaften an sein Volk oder wie am 17. März an den Deutschen Bundestag richtet. Der Medienwissenschaftler Bernhard Pörksen hat Selenskyj attestiert, dass er mit Hilfe der Videobotschaften, die er über die sozialen Netzwerke verbreitet, „ein Konnektiv der vernetzten Vielen anführt, ermöglicht durch die digitalen Medien“. Dietrich Leder hat sich Selenkyjs Rede im Bundestag angeschaut, für epd medien beleuchtet der Medienwissenschaftler die Medienstrategie des Präsidenten. Das in dem Text erwähnte Porträt „Selenskyj - Ein Präsident im Krieg“ (ARD/RBB/WDR) von Dirk Schneider und Claudia Nagel wurde am 15. März um 20.15 Uhr bei Arte gezeigt und um 23.05 Uhr im Ersten.
epd Wer etwas über die Medienpraxis des ukrainischen Präsidenten Wolodymyr Selenskyj erfahren wollte, war gut beraten, am 17. März die Live-Übertragung der Sitzung des Deutschen Bundestags anzuschauen. Zu Beginn der Sitzung um 9 Uhr sollte Selenskyj über eine Videoschaltung zu den Abgeordneten sprechen. Doch seine Rede verzögerte sich. Die Vizepräsidentin des Bundestags, Katrin Göring-Eckardt (Grüne), welche die erkrankte Präsidentin Bärbel Bas an diesem Tag vertrat, berichtete, die Verzögerung liege an einem weiteren Luftangriff auf Kiew, die Hauptstadt der Ukraine.
Als die Leitung stand, begrüßte Göring-Eckardt den Präsidenten mit einigen persönlichen Worten. Sie sei in der DDR aufgewachsen und wisse also, dass Freiheit ein Geschenk sei, das doch immer wieder erkämpft werden müsse. Sie erinnerte an die Worte, die sie auf den Demonstrationen des Maidan im Jahr 2014 gehört habe: „Zusammen sind wir viele.“ Das sagte sie erst in Ukrainisch, ehe sie es ins Deutsche übersetzte. Dann sprach Selenskyj.
Bittere Bilanz
Der Präsident sitzt auf einem braunen Schreibtischsessel. An der Wand links hinter ihm ist eine ukrainische Flagge im Anschnitt zu sehen, sonst nichts. Der Präsident trägt ein schwarzes T-Shirt und darüber ein olivfarbenes Hemd. Ein leichter Bart ist unter seinem Kinn zu sehen. Es hat den Anschein, als ob er die Rede von einem Teleprompter abliest, auch wenn er mitunter wohl improvisiert. Er spricht schnell. Die Übersetzerin, die bei Phoenix zu hören ist, hat Schwierigkeiten, mit dem Redefluss mitzukommen. Einmal, als sie nicht weiterweiß, wiederholt sie ein Wort mehrere Male. Den Begriff „Flugsverbotszone“, deren Einrichtung Selenskyj erneut einfordert, übersetzt sie nicht wortgenau.
Die Rede wird auf zwei großen Displays im Bundestag gezeigt, die links und rechts an der Wand hinter dem Präsidium angebracht sind. Die Mitglieder des Kabinetts wie des Bundesrats müssen sich zu diesen Bildschirmen umdrehen. Die Parlamentarier, die von der Live-Regie eingefangen werden, folgen der Übersetzung über Kopfhörer.
Sie hören, wie Selenskyj eine bittere Bilanz dessen zieht, wie Deutschland auf die Drohkulisse Russlands im letzten Jahr reagiert hat. Alle Aufforderungen aus der Ukraine, beispielsweise auf die Gasleitung Nord Stream 2 zu verzichten, seien von deutscher Seite immer mit dem Hinweis auf die „Wirtschaft“ abgelehnt worden. Selenskyj wiederholt den Begriff drei Mal. Nun müsse die Ukraine unter dieser verfehlten Politik leiden. Sein Land sei angegriffen worden wie schon vor 80 Jahren.
Dass Nazi-Deutschland 1942 in die Ukraine einmarschiert war, die damals zur Sowjetunion gehörte, muss der Präsident nicht ausdrücklich sagen. Das weiß jeder im Saal. Und als er an Babyn Jar erinnert, das dieser Tage von den Russen beschossen wurde, werden manchem Zuhörer Bilder der Mordaktion vor Augen gestanden haben, bei der mehr als 30.000 jüdische Kinder, Frauen und Männer von SS und Wehrmacht getötet wurden.
Selenskyj greift, geplant oder improvisierend, den Begriff der Mauer auf, den Göring-Eckhardt verwandt hatte. Es entstehe nämlich eine „neue Mauer“, welche die freien von den unfreien Ländern in Europa trenne. Seine Rede gipfelt in dem Satz: „Zerstören Sie diese Mauer!“ Seine Rede ist nicht glänzend, aber sie ist rhetorisch geschickt aufgebaut, indem er mit den Fehlern der deutschen Politik beginnt und mit Forderungen an diese endet, die abzulehnen - so die Logik der Rede - ein weiterer Fehler wäre. Er spricht die verschiedenen Publika direkt an, den Kanzler, die Abgeordneten, aber auch das „Volk“. Mit dem Begriff der „Mauer“ erinnert er die Deutschen an das, was sie selbst erlebt haben. Und das anklagende Pathos der dreifachen Wiederholung des Begriffs „Wirtschaft“ wirkt.
Umso fataler, dass anschließend Göring-Eckardt wie geplant zur Tagesordnung übergehen musste, um etwa zwei Abgeordneten zum Geburtstag zu gratulieren.
Es war nicht die erste Rede, die der ukrainische Staatspräsident via Videokonferenz in diesen Kriegstagen gehalten hat. Er war dem US-Kongress, dem europäischen Parlament, dem britischen Unterhaus zugeschaltet, um nur einige Institutionen zu nennen. Diesen offiziellen Ansprachen stand ein Mehrfaches an Videobotschaften gegenüber, die er an die eigene Nation richtete. Stets in olivgrünen Hemden und Pullover gekleidet, den Bart mal mehr, mal weniger gestutzt, vor kargem Hintergrund oder vor wichtigen Gebäuden in Kiew stehend, mal die Kamera im Selfie-Format selbst in der Hand haltend, mal von Kameraleuten aufgenommen. Verbreitet über die sozialen Kanäle Instagram, Facebook und Twitter, über die sich die Aufmerksamkeit ins Unendliche vervielfacht.
Nähe und Distanz
Ergebnis dieser absolut gegenwärtigen und modernen Medienpraxis: Selenskyj ist omnipräsent. Diese Omnipräsenz hat nebenbei eine klare Botschaft, die dem Aggressor gilt: Seht her, ich lebe, ich kämpfe und ich habe unsere Sache nicht aufgegeben, mich habt Ihr nicht. Seine Auftritte sind bildästhetisch karg, seine Sprache ist einfach und seine Rhetorik pathetisch. Es ist ein Pathos, das aus Kriegserfahrungen erwachsen ist und das sich der vielen Opfer des Kriegs bewusst ist.
Seine Auftritte stehen im harten Kontrast zu den wenigen Szenen, in denen sich Wladimir Putin, der russische Präsident, seit Beginn des Kriegs, den er befahl, zeigt. Putin klebt an Förmlichkeiten, was seine gediegene Kleidung, die stets sichtbare Armbanduhr, der Macht signalisierende Bildhintergrund, die mindestens zwei Kameras, die seine Ansprachen aufzeichnen, verraten.
In Ergänzung zu diesen Bildern präsentierte sich Putin am 18. März in einem Fußballstadion, anlässlich des achten Jahrestages der Annexion der Krim. Bei der live übertragenen Veranstaltung versuchte er, sich als eine Art Popstar der russischen Politik zu gerieren. Doch allein die Kleidung, ein weißer Rollkragenpullover unter einer teuren Daunenjacke, zeigte die Distanz zu den Fans, die ihn da im Stadion bejubelten. Zudem musste die Live-Übertragung seiner Rede aus unbekannten Gründen unterbrochen werden.
Um kein Missverständnis aufkommen zu lassen: Die visuellen Erscheinungen beider Politiker verdanken sich Fiktionen: Beide spielen Rollen, die überdecken, wie es in ihrem Inneren aussieht. Ihre Inszenierung folgt politischen Strategien, und die Visualisierung entspricht den Standards, die in der Mediengeschichte für beide Rollen entwickelt worden sind. So sind die Videobilder, die Putin zeigen, auf Distanz zur Macht aus, während die von Selenskyj Nähe versprechen. Putin setzt auf das längst von ihm monopolisierte Fernsehen, während Selenskyj auch dank seines jungen Digitalministers Mykhailo Fedorov auf die sozialen Medien setzt und als ein Influencer der ukrainischen Sache wirkt.
Wer mehr über diesen ukrainischen Politiker erfahren will, der seit 2019 als Präsident seines Landes amtiert, hat dazu vor allem bei Arte Gelegenheit. Denn in der Mediathek des deutsch-französischen Senders ist die Fernsehserie zu sehen, mit der Selenskyj 2015 so populär wurde, dass er wenig später als Kandidat zur Präsidentschaftswahl antrat und aus der Stichwahl als klarer Sieger hervorging. „Diener des Volkes“ ist eine Mischung aus Familien-Soap, Politkabarett und Verschwörungskrimi. Die Serie, die aus 23 Folgen besteht, von denen die erste 45 und die anderen um die 23 Minuten dauern, ist in vielerlei Hinsicht konventionell. Das Besondere besteht darin, dass sie die Blaupause für das abgab, was dann in der Wirklichkeit geschah.
Direkte Ansprache
Denn in den Mittelpunkt einer größeren Öffentlichkeit gerät die von Selenskyj gespielte Hauptfigur, als deren Wutrede über die Lage des Landes von einem Schüler mitgeschnitten und ins Netz gestellt wird. Er wird so ungewollt populär, was erst seinen märchenhaften Aufstieg zum Präsidenten ermöglicht. Wie er mit einer gewissen Naivität in die Fänge der korrupten Politikprofis gerät, die in ihm einen Handlanger ihrer Machenschaften sehen, wie er sich daraus befreit, um am Ende den größten Intriganten in einer live ausgestrahlten Fernsehshow zu überführen, das erinnert in den besten Momenten an die Filme von Frank Capra, etwa „Mr. Smith Goes to Washington“ von 1939.
Bei genauerem Hinsehen erkennt man, dass der fiktive Präsident der Serie seine Karriere derselben Medienpraxis verdankt, derer sich der reale Präsident nun im Krieg bedient. In der Serie ist es zwar nur ein Video, das im Internet und in den sozialen Medien für Furore sorgt, in der Wirklichkeit des Kriegs sind es viele. Gemeinsam ist ihnen der Furor, der die Reden des fiktiven wie des realen Präsidenten antreibt, ist die Kargheit der Mittel, die jeder visuellen Opulenz Hohn sprechen, ist die direkte Ansprache an die, die ihn sehen und hören wollen.
Dass die Karriere des realen Präsidenten nicht so idealtypisch verlief, wie sie die Serie für den fiktiven imaginierte, daran erinnerte die Dokumentation „Selenskyj - Ein Mann im Krieg“ (der französische Titel lautet sachlicher „L‘ Homme de Kiew“) von Dirk Schneider und Claudia Nagel, die am 15. März bei Arte und im Ersten zu sehen war.
Ausgangspunkt des Films ist ein Gespräch mit Selenskyj, das die Journalisten im vergangenen Jahr, als die Drohungen aus Russland schon zugenommen hatten, vor der Kamera führten. Doch der größte Teil des Films wurde in den letzten Wochen aufgenommen. Das merkt man ihm auch an. Es gibt manche Leerstelle, einige Widersprüche und eine Musiksuppe, die all diese Widersprüche überkleistert.
Viele Widersprüche
Dass der Film dankenswerterweise keine Hagiographie wurde, liegt an den Gesprächspartnern, die Schneider und Nagel für ihren Film auswählten, an der Politikwissenschaftlerin Orysia Lutsevych, der Journalistin Karoun Demirjian („Washington Post“), der Politikerin Marieluise Beck (Grüne) und dem Historiker Andrii Portnov. Allesamt exzellente Kenner der ukrainischen Politik und Geschichte.
Sie erinnern an eine Fülle von Widersprüchen, die das Leben von Selenskyj kennzeichnen: Dass er, der in seiner Fernsehserie gegen die Oligarchen wettert, seine Medien- und Politikkarriere einem Oligarchen verdankt. Dass er, der sowohl in der Fiktion der Serie wie in der Wirklichkeit in seinem Wahlkampf auf Transparenz setzte, sein Vermögen wohl teilweise im Ausland deponierte. Dass er angesichts ausgebliebener Reformen nach zwei Jahren Amtszeit in der Bevölkerung enorm an Zustimmung verloren hatte.
Aber alle vier zeigen sich im Film positiv überrascht davon, wie sich Selenskyj seit Kriegsbeginn verhält. Sie sprechen von einer „Transformation“, einem Wandel, den niemand erwartet hätte. Der Mann, der im Wahlkampf nur eine Projektionsfläche für die unterschiedlichen Wünsche und Hoffnungen seiner Wähler war, sei zu einer Persönlichkeit gereift. Er habe nicht die Chance genutzt, sich selbst in Sicherheit zu bringen, sondern habe sich für den Kampf in Kiew entschieden. Seine Videobotschaften hätten den Zusammenhalt unter den Menschen gestärkt und ihnen die Parole ihres Kampfes geliefert: „Wir haben nichts zu verlieren - außer unserer Freiheit!“
In seinen Videobotschaften merke man den Profi, der sich der Kamera sicher ist, der seine mimischen Mittel einzusetzen versteht, um seine Aussagen zu unterstreichen, der russisch spreche, um die Russen über den Krieg aufzuklären oder russische Soldaten zum Niederlegen der Waffen aufzufordern. Es sei die „Performance seines Lebens“, sagt Andrii Portnov.
Medienprofi durch und durch
Der Film beginnt mit den Aufnahmen, die kurz vor Beginn des Interviews mit Selenskyj entstanden. Man sieht, wie der Präsident, damals im feinen weißen Hemd, aber ohne Krawatte, seine Sitzhaltung korrigiert, leicht den Bauch einzieht und seine Mimik reduziert. Man merkt die Arbeit, die hinter seinem Fernsehabbild steckt. Putin hatte ihn unterschätzt, als er ihn einen „Fernsehclown“ nannte. Denn Selenskyj ist ein Medienprofi durch und durch. Er ist Schauspieler wie Ronald Reagan, den Selenskyj in seiner Rede vor dem Bundestag zitierte, und ein Fernsehmoderator wie Donald Trump.
Aber er ist der erste Politiker, der die Techniken des Schauspielers und des Moderators benutzt, um vor allem in den sozialen Medien Präsenz zu zeigen. Nicht allein durch Textnachrichten via Twitter, wie es Trump tat, sondern durch die Videos, die auf vielen Youtube-Kanälen zu sehen sind. Er zeigt Präsenz in einem Krieg, in dem er selbst Zielscheibe ist.
Aus epd medien 12/22 vom 25. März 2022