epd Die HR-Produktion „Entgrenzgänger II“ von Robert Schoen ist am 15. August mit dem Hörspielpreis der Kriegsblinden ausgezeichnet worden. Ebenfalls nominiert waren die Hörspiele „K. I. T. A. - Das Menschenmögliche“ (WDR) von Antje Vauh und Carina Pesch und „Mixing Memory & Desire“ (SWR) von Werner Fritsch (vgl. Meldung in dieser Ausgabe). Der mit 5.000 Euro dotierte Kulturpreis wird von der Film- und Medienstiftung NRW und dem Deutschen Blinden- und Sehbehindertenverband (DBSV) getragen. Die Auszeichnung wird seit 1952 jährlich an ein für einen deutschsprachigen Sender konzipiertes Original-Hörspiel verliehen, das in herausragender Weise die Möglichkeiten der Kunstform realisiert und erweitert. Diemut Roether, die Mitglied der Jury war, berichtet über die Preisfindung.
epd Migration bleibt das große Thema unserer Zeit. Die Frage, wie wir als Gesellschaften damit umgehen, dass Menschen einwandern, dass sich Kulturen vermischen und daraus Neues entsteht, ist ein Thema, das uns gar nicht genug beschäftigen kann, wurde es doch Jahrzehnte lang viel zu sehr vernachlässigt. Es ist richtig und wichtig, dass das Thema auch die Hörspielautoren und -autorinnen immer wieder und immer wieder neu beschäftigt. Ein sehr eindrückliches Stück zu dem Thema kam in diesem Jahr aus der Schweiz, war aber vom Bayerischen Rundfunk eingereicht worden.
„Welcher Art die Wärme ist“ von Carmine Andreotti, Paola De Martin und Melinda Nadj Abonji, eine Koproduktion von BR und SRF, beschreibt ein Stück Migrationsgeschichte, das selbst in der Schweiz kaum bekannt ist. „Gastarbeiter“ wurden die Menschen genannt, die in den 60er Jahren kamen, als Deutschland und die Schweiz händeringend Arbeitskräfte suchten und die sogenannten Anwerbeabkommen mit Italien, der Türkei und anderen Ländern abschlossen. Die „Gäste“ arbeiteten hier in den Fabriken und trugen dazu bei, den Wohlstand der Anwerbeländer aufzubauen.
„La mamma“ blieb eine Fremde
In der Schweiz wurden die sogenannten Gastarbeiter durch das bis 2008 geltende „Bundesgesetz über Aufenthalt und Niederlassung der Ausländer“ systematisch daran gehindert, sesshaft zu werden. Familiennachzug war nur bedingt möglich, erst ab 1965 konnten ausländische Arbeiter, deren jeweils ein Jahr gültige Arbeitsverträge fünfmal hintereinander verlängert worden waren, ihre Familien nachholen. In der Schweiz geborene Kinder erhielten keine Aufenthaltstitel.
So wuchsen Kinder fern von ihren Eltern auf, eine Tante oder eine Großmutter wurde für sie zur nächsten Bezugsperson. Eine Italienerin beschreibt, dass ihre Mutter, wenn sie selten zu Besuch kam, zwar „la mamma“ genannt wurde, dass sie aber für sie nicht ihre Mutter war, sie blieb lange eine Fremde. Das Stück beschreibt die traumatischen Folgen dieser vom Staat erzwungenen Entfremdungsprozesse in den Familien, die nie ein Zusammengehörigkeitsgefühl entwickeln konnten.
Das Thema wurde in der Schweiz lange beschwiegen und es ist ein großes Verdienst, dass Andreotti, de Martin und Abonji es in ihrem Stück so behutsam ausleuchten. Die Jury konnte das Hörspiel dennoch nicht restlos überzeugen. Einige fanden es zu wenig poetisch und zu konventionell inszeniert. Als eindrückliche Illustration des Satzes von Max Frisch - „Wir riefen Arbeitskräfte und es kamen Menschen“ - ist es jedoch ein Stück, das lange nachhallt.
Wie sich ein in Israel geborener eingewanderter Künstler die deutsche Kultur aneignen kann - oder eben auch nicht - hat Noam Brusilovsky in seinem Hörspiel „Faust (hab ich nie gelesen)“ (SWR/DLF) als veritables Schelmenstück inszeniert. Es geht um den Regisseur Noam Brusilovsky, der die deutsche Staatsbürgerschaft beantragen will. Dafür benötigt er einen Nachweis von dem Sender, für den er arbeitet, dass er unersetzliche Kulturleistungen erbringt. Die Redakteurin bietet ihm einen wahrhaft faustischen Pakt an: Gerade ist der altgediente Regisseur gestorben, der den „Faust“ für sie mit bekannten Schauspielern als Hörspiel inszenieren sollte. Wenn Brusilovsky nun die Inszenierung übernimmt, bekommt er von ihr den Nachweis.
Dummerweise hat sich der junge Regisseur im Schauspielunterricht ausgerechnet vor dem „Faust“ gedrückt und das deutscheste aller Theaterstücke nie gelesen. Wie Brusilovsky nun versucht, sich erneut vor der Lektüre des „Faust“ zu drücken, indem er Experten, Lehrerinnen und Schüler befragt und auch von der nicht unproblematischen Rezeption des „Faust“ in Israel erzählt, ist geistreich und unterhaltsam. Er öffnet das reiche Zitatekästchen, zu dem Goethes Stück in Deutschland längst geworden ist, und schüttet ein Füllhorn an Assoziationen aus. Während einige Jurorinnen Spaß daran hatten, wie Brusilovsky hier den Mythos Faust dekonstruiert und eine Hörspielsatire daraus macht, fanden andere das Stück zu selbstgefällig, eine „Noam-Brusilovsky-Show“.
Der Autor Robert Schoen schließlich macht sich in „Entgrenzgänger II“ (HR) selbst auf den Weg. Wohin ihn die Reise führen soll, überlässt er dem Zufall. Klar ist nur, es muss ein Ort in Russland sein, schließlich hat er ein Stipendium für ein künstlerisches Projekt in diesem Land, noch aus der Zeit vor dem Krieg. Er würfelt sein Ziel aus und landet schließlich in Tscherkessk, in der Vielvölkerregion Kaukasus. Hier mischen sich seit Jahrhunderten die Sprachen und Kulturen. Schoen wird freundlich aufgenommen. Wo er hinkommt, sprechen die Menschen mehrere Sprachen, er trifft auf einen Experten für deutsche Sprichwörter, und viele Menschen, denen er begegnet, verbindet die Liebe zur Musik, über die auch Schoen den Zugang zu ihnen findet.
Scheinbar naiver Tor
Der Krieg ist der große Elefant im Raum dieses Hörspiels. Weil es keine Flüge von Deutschland nach Moskau gibt, muss Schoen auf geradezu abenteuerliche Weise nach Tscherkessk reisen. Dort angekommen, spricht fast niemand mit ihm über den Krieg. Er will ihn vergessen, doch immer wieder drängt sich das Thema dann doch in seine Gedanken. Von den Russen heben sich die Menschen in Tscherkessk in einem entscheidenden Punkt ab: Sie trinken Cognac, nicht Wodka, der aus allen Menschen Russen macht.
Ähnlich wie Brusilovsky nähert sich auch Schoen als nur scheinbar naiver Tor seinem Thema. Mit seinen kunstvollen Aufnahmen zeichnet er ein sehr dichtes, atmosphärisches Bild eines unbekannten und faszinierenden Landes. Die Jury lobte Schoens genialen Dilettantismus, seine gezielt gestreuten Doppeldeutigkeiten. Kein Zweifel, das Stück war eine Nominierung wert.
Mit deutschen Befindlichkeiten befassten sich ebenfalls mehrere Stücke in der Auswahl. Großes Vergnügen bereitete die Wiederbegegnung mit Steffi und Isa in „Die verkehrte Frau“ (MDR). Wie Holger Böhme in seinem inzwischen dritten Stück über die Freundinnen Steffi und Isa deutsch-deutsche Geschichte betrachtet und seziert und in einer komplizierten Frauenfreundschaft spiegelt, ist große Kunst. Anja Schneider, Carina Wiese und Jörg Schüttauf bilden gemeinsam mit Holger Böhme ein Dreamteam, das mit viel Dialogwitz und sächselndem Zungenschlag so pointiert abliefert, dass es eine Lust ist, ihnen zuzuhören. Böhmes Dialoge sind der Wirklichkeit abgelauscht, seine Stücke sind liebevolle Parodien auf gesellschaftliche Diskussionen.
Diesmal hat sich Isa, die Inhaberin einer Werbeagentur, in eine Frau verliebt. Schön und gut, sagt Steffi, aber muss es ausgerechnet Gudrun sein, die Yogalehrerin, mit der Steffis Mann Jochen vor vielen Jahren eine folgenreiche Affäre hatte? Die Frauenfreundschaft wird wieder einmal auf eine harte Probe gestellt und Böhme nutzt das Setting für gezielte Seitenhiebe gegen Yoga, Esoterik und die Schwurblerszene. Ein großes Hörvergnügen, aber für eine Nominierung reichte es nicht.
Was dürfen wir essen?
In „Sauerei“ (Deutschlandfunk Kultur) befasst sich das Autorenduo Serotonin (Marie-Luise Goerke und Matthias Pusch) mit einem Thema, über das in Deutschland heftig gestritten wird: Was dürfen wir noch essen - und wenn ja, wie? Gerade hat sich der vegane Spitzenkoch Mats Horner den ersten Stern erkocht, da erhält seine Freundin Bente die Nachricht, dass ihre Großmutter verwirrt und unterkühlt aufgefunden wurde. Bente fährt für ein paar Tage zu ihrer Oma, um für sie zu sorgen und wird auf dem Land mit der Masttierhaltung konfrontiert, die ihre eigenen Großeltern auch betrieben haben. Aber der Sauerampfer, den Mats in seiner Sterneküche einsetzt, wächst hier wie Unkraut.
Hier kommt buchstäblich alles auf den Tisch: die Konflikte zwischen Stadt und Land, zwischen den Generationen, Gourmetküche und vegane Wurst, ökologische Schweinehaltung und Höfesterben, Hydroponik und Schützenvereine. Über allem steht die Frage: Wie wollen wir leben - und können wir uns das überhaupt leisten? Das Hörspiel bricht am Ende fast unter der Last der Erklärungen zusammen, die die Autoren immer wieder eingebaut haben.
In „Landunter“ (Radio Bremen) hat Wilke Weermann die Folgen des Klimawandels konsequent weitergedacht. Lasse, der die Umsiedlung des fiktiven Orts Lüttegeest voranbringen soll, weil dieser durch Überflutung bedroht ist, trifft dort in seinem ehemaligen Heimatort auf Merle, eine frühere Freundin. Die aber will bleiben, weil sie hier auf dem Hof noch virtuell mit ihrer verstorbenen Mutter kommunizieren kann.
Das Hörspiel war Teil der Reihe „2035 - Die Zukunft beginnt jetzt“, die vor allem für ein junges Publikum gedacht war. Es zeigt typische Schwächen eines Konzepthörspiels: viele interessante Ansätze, die eine oder andere faszinierende Idee, aber am Ende doch etwas konventionell und nicht mutig genug zu Ende gedacht. So war das Ende fast schon zu versöhnlich angesichts einer Katastrophe unvorstellbaren Ausmaßes.
Auch das Hörspiel „K. I. T. A .“ (WDR) zeichnet ein Zukunftsszenario, allerdings eines, das schon recht bald Wirklichkeit werden könnte. Künstliche Intelligenzen übernehmen in der Kindertagesstätte die Betreuung der Kleinen, und die Eltern können diese Bots nach ihren eigenen Wünschen programmieren lassen. Schnell stellt sich heraus, dass nicht die Bots das Problem sind, sondern die überforderten Eltern, die unter anderem wollen, dass ihr Kind bereits im Kindergarten Chinesisch lernt, damit es optimal auf seine Zukunft vorbereitet ist.
„K. I. T. A“ ist eine Mockumentary, das Hörspiel tut so, als wäre es ein Feature, als solche ist es von Antje Vauh und Carina Pesch sehr überzeugend und realitätsnah inszeniert. Das Konzept geht auf. Der Jury war dieses zum Nachdenken anregende Spiel eine Nominierung wert.
Auch „All right - Good night“ (WDR) mutet über weite Strecken wie eine Dokumentation an. Der Kunstgriff der Autorin und Regisseurin Helgard Haug besteht darin, dass sie Parallelen zieht zwischen dem Verschwinden des Flugs MH 70, der am 8. März 2014 mit 239 Personen an Bord in Kuala Lumpur startete und nie in Peking ankam, und der Demenz ihres Vaters, die ihn als Person auch zum Verschwinden bringt.
Dieser Versuch, das Unbegreifliche beider Ereignisse parallel zu setzen, ging nicht für alle in der Jury auf. Zu konstruiert, zu abstrakt fanden manche die Gleichsetzung. Das Gefühl der existenziellen Verunsicherung, das die Angehörigen durchleben, mag jedoch durchaus ähnlich sein.
Verbrecherische Organisation
Was passiert, wenn die gewohnte Ordnung der Dinge durcheinandergerät, beziehungsweise, wie der Staat versucht, diese Ordnung wieder herzustellen, ist Thema des Stücks „Die Polizey“ (Deutschlandfunk Kultur) von Björn SC Deigner. Der Autor knüpft an ein Fragment von Friedrich Schiller an, in dem dieser die Polizei im frühen 19. Jahrhundert als eine von Verbrechen und Verschwörung geprägte Institution beschreibt. In der Tat waren frühe Kriminalisten wie Eugen Francois Vidocq Kriminelle, die vom Staat erpresst wurden, Spitzeldienste zu leisten.
Deigner, dessen Stück von Luise A. Voigt als Hörspiel adaptiert und inszeniert wurde, zieht von den Anfängen der Polizei in Paris Verbindungen zu den Freikorps in Deutschland nach dem Ersten Weltkrieg, über das berüchtigte Reserve-Polizei-Bataillon 101 der NS-Zeit, das im Zweiten Weltkrieg aktiv am Holocaust beteiligt war, bis hin zu Polizisten, die sich im 21. Jahrhundert in rechten Netzwerken engagieren - mitten in Deutschland. Das fanden manche Juroren zu einseitig und befremdlich. Hier werde der Eindruck erweckt, die Polizei - auch die in einem Rechtsstaat - sei immer eine verbrecherische Organisation.
„Was siehst du? Die Nacht!“ (ORF) war das letzte Hörspiel des Autors Ludwig Fels. Die Geschichte der kleinen Mirka, die mit ihrem Vater in einem Deportationszug von Lodz nach Auschwitz sitzt, hat den Regisseur und Klangkünstler Stefan Weber sehr beeindruckt. Fels starb 2021 während der Vorbereitung der Hörspielproduktion durch Weber.
Mirka stellt Fragen. Viele Fragen, die ihr Vater nicht beantworten kann und will. „Was sind Saujuden, Papa?“ - „Warum tragen wir diesen Stern?“ - „Warum sind wir hier?“ Mit dem Hörspiel erzählen Weber und Fels noch einmal von zwei Einzelschicksalen inmitten dieses millionenfachen Mordens und versuchen so, die Erinnerung an sie zu bewahren. Weber schafft mit seiner sorgfältigen behutsamen Inszenierung eine dichte Atmosphäre. Die Hörerinnen sind nah - vielleicht etwas zu nah - bei Vater und Tochter im Zug.
So sehr dieses Stück überwältigt, so fragten einige Juroren doch: Darf man das? Wirken solche Geschichten womöglich eher einlullend? Reichen die Zeitzeugenberichte nicht aus? Gerade angesichts der Tatsache, dass in wenigen Jahren keine Zeitzeugen mehr vom Holocaust erzählen können, gewinnt die Diskussion über die literarische Auseinandersetzung mit dem Thema noch einmal an Bedeutung.
Magischer Realismus
Um persönliche Erinnerungen geht es dem Autor Werner Fritsch. Mit dem Hörspiel „Mixing Memory and Desire“ (SWR) hat er den ersten Teil seiner Biografie als Audiofiktion vorgelegt. Das Stück hat er selbst mit der kongenialen Musik von Werner Cee inszeniert, es ist ein Hörfilm von fast Bergmanscher Qualität geworden. Wenn Fritsch sich an seine Kindheit in der bayerischen Oberpfalz erinnert und daran, welche Rolle das Radio auf dem Hof, auf dem er lebte, spielte, sind Sendersuchlauf und leise Musik zu hören. Später erklingen die Glocken der Dorfkirche, Donnergrollen oder Hornissengebrumm. Und als Musik im Leben des Jugendlichen eine wichtige Rolle zu spielen beginnt, sind Gitarrenriffs zu hören.
Fritsch beschwört mit seiner bildgewaltigen Sprache und den gut akzentuierten Klängen die Erinnerungen und die Atmosphäre der 60er Jahre herauf, das Aufwachsen in einer dörflichen Umgebung, geprägt vom Kirchgang, den katholischen Nonnen in der Schule, Märchen und den Erzählungen der Erwachsenen. Der Junge wuchs in der Gewissheit auf, dass Gott ihn sah und hielt Zwiesprache mit ihm. Ein Heiliger wollte er werden, Drachen besiegen, die Hexe ins Ofenloch stoßen. Bis Jimi Hendrix kam.
„Mixing Memory & Desire“ ist ein Stück magischer Realismus aus der Oberpfalz. Fritsch gelingt es, die Perspektive des Jungen und die des Erwachsenen, der auf seine Kindheit zurückblickt, überzeugend zu verweben. Auch dieses einzigartige Hörspiel kam in die Auswahl der letzten drei.
Der Preis ging schließlich an „Entgrenzgänger II“, weil Schoen hier einen radikal persönlichen Einblick in eine fremde Kultur gibt, weil er versucht, vorurteilsfrei zu beobachten, aber dennoch zu eigenen Schlüssen und Urteilen gelangt. Das Hörspiel feiert das Spiel als Weg der Erkenntnis. Hier gelingt Aufklärung durch Kunst.
Aus epd medien 34/23 vom 25. August 2023